Greife nie in ein fallendes Messer
Rubelscheine einziehen und vernichten wollte, war das weltweite Kopfschütteln nicht zu übersehen. In Frankfurt begruben wir endgültig unsere Hoffnungen, über Joint Ventures deutscher Konzerne mit sowjetischen Unternehmen die Handelsbeziehungen zwischen den beiden Staaten zu intensivieren. Deutschland, für den Osten das Tor zum Westen, für den Westen die Schaltstelle für den Handel mit Osteuropa, diese Vision mussten wir, wahrscheinlich auf lange Zeit, zu den Akten legen.
Bundeskanzler Kohl startete noch einmal einen Versuch, die Hilfe der westlichen Welt auf dem Weltwirtschaftsgipfel in London zu aktivieren. Immerhin hatten die Deutschen Gorbatschow die Einheit zu verdanken, war der Einsatz der UN-Truppen in der Golfregion erst durch Gorbatschows Stillhalten ermöglicht worden. Doch auf dem Weltwirtschaftsgipfel in London am 17. Juli 1991 gab es für den sowjetischen Gast nur protokollarische Ehren und die Zusicherung, bald als Mitglied in den Kreis der führenden Industrienationen aufgenommen zu werden. Bares hatte der Bittgang nach London nicht gebracht. Erst müsse die Sowjetunion ihre Hausaufgaben machen und ihre Wirtschaft in Ordnung bringen, wurde Gorbatschow kühl beschieden, dann könne er mit weiteren Milliardenhilfen rechnen.
Die Börsianer in Frankfurt hatten das Thema Sowjetunion schon vorher abgehakt. Der Osten Europas würde auf lange Zeit als Absatzmarkt und als Produktionsstandort bedeutungslos bleiben, selbst wenn jetzt Mercedes-Benz mit einem sowjetischen Konzern über eine gemeinsame Autobusproduktion verhandelte. Gründe für Kursgewinne bei den deutschen Aktien waren im Osten beim besten Willen nicht auszumachen, und die negativen Faktoren waren bereits in den Kursen enthalten. So glaubten wir wenigstens. Ein riesengroßer Irrtum, wie wir bald erfahren sollten.
Uns interessierte in diesen Tagen vor allem anderen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das den Gesetzgeber zwang, bei den Einkünften aus Kapitalvermögen für eine Besteuerungsgleichheit mit anderen Einkunftsarten zu sorgen. Das große Thema Kapitalflucht zur Vermeidung von Steuern auf Zinserträge begann, die Börse zu |93| beunruhigen. Zu diesen Sorgen kamen Inflationsängste: Die Teuerungsrate in Hessen war im Juni auf 4,4 Prozent gestiegen, die Bundesbank würde wahrscheinlich die nächste Gelegenheit nutzen, mit ihrem Zinsknüppel zuzuschlagen, und die Kurse treffen. Der DAX geriet prompt ins Straucheln, hielt sich aber deutlich über der Marke von 1 600.
Als es am 15. August dann tatsächlich so weit war und Diskont- und Lombardsatz erhöht wurden, stürzte der DAX aber nicht ab, im Gegenteil, er stieg sogar auf 1 654 Punkte.
Für die Börsianer ist das keine ungewöhnliche Entwicklung. Die Kurse geraten dann in Bewegung, wenn ein bestimmtes Ereignis erwartet wird, und trifft es dann schließlich ein, gibt es kaum noch eine Reaktion. So hatte die Furcht vor steigenden Zinsen schon Tage vor der Sitzung des Zentralbankrats die Kurse der Aktien unter Druck gesetzt, denn normalerweise sind steigende Zinsen von Vorteil für Anlagen auf dem Rentenmarkt, also in Anleihen, Pfandbriefen oder auch Obligationen. Umgekehrt sind sie für die Aktienanlage von Nachteil, schon weil der Rentenmarkt attraktiver geworden ist.
Als dann am Donnerstag, dem 15. August 1991, die Bundesbank nach der Routinesitzung des Zentralbankrats die Zinserhöhungen bekanntgab, waren die negativen Reaktionen bereits in den Kursen enthalten. Warum sollte es also deswegen noch weiter in den Keller gehen? Außerdem war auf absehbare Zeit nicht mit einem weiteren Zinsschritt zu rechnen. Auf Wochen würde man Ruhe haben vor der Bundesbank. Das wiederum veranlasste den einen oder anderen Anleger zu Aktienkäufen.
Es folgte ein ruhiger Freitag, und alle freuten wir uns auf ein sommerliches Wochenende. Einige Börsianer hatten sich in den Urlaub verabschiedet, und mit ihnen hatten auch offensichtlich viele Anleger ihre Bücher zugeklappt.
Abgesehen von außergewöhnlichen Krisenjahren wie dem Jahr 1990 fällt die Börse in den Sommermonaten Juli und August in eine friedliche Lethargie. Die institutionellen Anleger, etwa die Fonds, haben ihren Kunden die Halbjahresbilanzen vorgelegt, auch die Zeit der Hauptversammlungen ist vorbei, Aufregendes ist kaum zu erwarten |94| . Folglich verkauft so mancher einen Teil seiner Bestände, parkt sein Geld am Terminmarkt und wartet mit neuen Käufen bis zum Herbst, wenn die ersten Schätzungen für das kommende
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