Greifenmagier 1 - Herr der Winde
strahlenden Blick aus gold-kupfernen Augen. Die junge Frau stockte, aber Kairaithin zog sie weiter mit.
»Wir haben noch mehr Verletzte«, erklärte Kairaithin.
Er klang ... nicht richtig besorgt. Nicht wie ein Mensch sich angehört hätte, dessen Freund verwundet worden war. Kes verstand nicht, was in diesem Ton mitschwang, aber es war nichts Menschliches.
»Ihm geht es jedoch am schlechtesten«, fuhr Kairaithin fort. »Er ist unser ... König. Er muss überleben. Für dein Volk wie auch meines wäre es viel besser, wenn er überlebte.«
Kes konnte nicht erkennen, ob das als Drohung oder nur als eine Feststellung gedacht war. Sie ging zögernd näher heran und kniete sich neben den verletzten Greifen. Sie fasste an seine Brust und zog behutsam das Gefieder auseinander. Der verletzte Greif rührte sich nicht; der andere bewegte eine Tatze, und die Krallen scharrten über Gestein. Kes fuhr zurück, aber er bewegte sich nicht weiter. Und Kairaithin wartete.
Die Wunde, die sie vorfand, war ein Einstich, der tief reichte - sie konnte nicht feststellen, wie tief - und nicht minder breit war. Sie blutete nur wenig, ein spärliches Quellen purpurfarbener Tropfen, die jeweils der Lage des Gefieders folgten, um glitzernd und fest auf den Sand zu fallen. Winzige Edelsteine, Rubine und Granate, funkelten unter Kes' Knien im Sand. Kes betrachtete sie blinzelnd und verstand zum ersten Mal ganz und gar, dass Greifen wahrhaftig keine Geschöpfe der Erde waren. Dass sie für dieses Land und Kes' eigenes Wesen völlig fremd waren. Und von ihr erwartete man, sie zu heilen? Sie warf Kairaithin einen erschrockenen Blick zu.
»Ein Pfeil, gefertigt aus Eis und üblem Trachten«, sagte der Greifenmagier und musterte dabei ihr Gesicht. »Ich habe den Pfeil herausgezogen und die Blutung verlangsamt. Ich verfüge jedoch nicht über die Macht des Heilens. Du hast sie empfangen.«
Kes legte die Hand auf die Wunde. Sie hatte keine Kräuter dabei, keine Nadeln, kein sauberes Wasser, nichts, was eine Heilerin für die Ausübung ihrer Kunst benötigte ... Sie berührte das Gesicht des Greifen, spürte den feinen Schattierungen von Gold und Bronze unter dem blinden Auge nach, tastete nach dem Puls und ließ die Hand auf der Stelle liegen, wo das Blut unter dem zarten Halsgefieder rasch pochte. Sie bemühte sich um einen eher hilflosen als widerspenstigen Tonfall, als sie sagte: »Aber ... wirklich, mein Herr, ich verstehe mich auf nichts weiter als Kräuter.«
»Du weißt, was du siehst. Du weißt, was wir sind. Bist du dir der eigenen Macht nicht bewusst, die sich zu erwachen anschickt? Hast du mich nicht sofort als das erkannt, was ich bin?«
Kes wusste nicht, was er mit der »eigenen Macht« meinte. Wahre Heiler waren Magier und nicht bloße Kräuterfrauen. Kes war keine Magierin. Sie wusste sehr gut, dass sie keine Magierin war. Magier waren nicht einfach nur begabt, so wie es Tesme mit ihrem Einfühlungsvermögen in Pferde war oder wie Handwerker oder Rechtskundige unterschiedliche Gaben ihr Eigen nannten. Wann immer etwas hergestellt wurde, wohnte Magie darin, wie sie auch in den angefertigten Dingen wohnte; jeder Mensch verfügte zumindest in einem geringen Maße darüber. Magie lag im gesprochenen und besonders im geschriebenen Wort - ganz besonders in Linularinum, wo jeder zu schreiben lernte. Aber die Affinität einem Tier gegenüber, die Fähigkeit, etwas anzufertigen oder zu bauen, die Gabe des Rechtskundigen, mit Feder und Tinte die Wahrheit festzuhalten ... all das gehörte zur angeborenen, natürlichen Erdmagie. Jeder konnte damit begabt sein.
Magier hingegen brachten nicht einfach nur eine Gabe mit. Sicher, sie besaßen eine Gabe, aber das war nicht genug, um aus einem Menschen einen Magier zu machen. Zumindest hatte Kes das von jeher geglaubt. Magier studierten viele Jahre lang und lernten ... Kes konnte sich gar nicht vorstellen, was. Und man fand niemals viele von ihnen; die nötige Verbindung aus Macht und Einsatz trat verschwindend selten auf.
Kes war nie auf die Idee gekommen, sich zu fragen, wie sich ein alter Magier einen Lehrling aussuchte oder wie ein junger Mensch womöglich im eigenen Innern das Verlangen oder die Fähigkeit oder ... was auch immer ... entdeckte, das ihm vielleicht den Wunsch eingab, man möge ihn erwählen. Kes hatte sich nie dergleichen gewünscht. Ihr Wunsch war es immer gewesen, man möge sie allein lassen, damit sie durch die Berge wandern und den Himmel und die Teiche und die wachsenden
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