Greifenmagier 1 - Herr der Winde
Dinge betrachten konnte. Oder nicht? Wäre ihr jemals die Idee gekommen, sie könnte Magierin sein ... und hätte sie das gewollt? Wollte sie es jetzt?
Jetzt, wo ihr die Idee kam, dachte sie unbehaglich, dass sie es sich vielleicht beinahe wünschte. Es würde sie zu jemand Besonderem machen ... aber auf eine Art und Weise, die andere Menschen verstanden oder, wenn sie es nicht verstanden, die sie wenigstens akzeptieren konnten. Und sie war ohnehin von jeher eine Außenseiterin gewesen oder hatte sich irgendwie selbst abgesondert. Zauberisches Können hätte sie ... hätte sie ... zu sie wusste nicht was gemacht. Zu etwas anderem, als sie jetzt war. Nicht wahr? Und doch glaubte dieser Greifenmagier, sie wäre vielleicht eine Magierin? Selbst als sie jetzt den Versuch unternahm, einen Blick nach innen zu werfen, entdeckte sie überhaupt nichts, was ihr in irgendeiner Weise als Macht erschienen wäre.
Kairaithins Macht hingegen war für sie körperlich spürbar - wie die Hitze eines nahen Lagerfeuers auf der Haut. Kes schloss die Augen und sah, wie sich ein schwarz-roter Greif in der Dunkelheit hinter den Lidern bewegte. Ich verfüge jedoch nicht über die Macht des Heilens, hatte er gesagt. Über was für eine Macht gebot denn ein Greif, der zugleich Magier war? Sobald sie an den Greifen dachte, durchtoste Feuer die Dunkelheit. Eine Stimme wie der heiße Wüstenwind sprach in ihren Gedanken: Anasakuse Sipiike Kairaithin. Kes zweifelte nicht an seiner Macht. War es gleichwohl möglich, dass sich der Greifenmagier irrte, was sie anging?
»Als ich suchte, fand ich dich, und deshalb führte ich mein Volk hierher«, erklärte ihr Kairaithin, als antwortete er auf ihre unausgesprochene Frage. Kes, die weiterhin ihre Augen geschlossen hielt, hatte den Eindruck, dass er von einem weit entfernten Ort aus sprach. »Deshalb sind wir hier, und deshalb ist auch Kiibaile Esterire Airaikeliu hier, Fürst von Feuer und Luft. Betrachte ihn als ganz und heil, Frau, und tue dies mit beharrlichem Blick; verströme das Feuer, das ihn erhält, durch dein Herz in ihn hinein, und er wird wieder ganz und heil sein.«
Kes öffnete die Augen und blickte verdutzt zu dem Greifenmagier auf. Mit beharrlichem Blick? Sie legte dem verletzten Greifen die Hand auf die Brust, starrte auf ihn hinab und hoffte, eine Eingebung zu erhalten. Sein Atem ging schnell. Sein Blut, das ihm flüssig aus dem Körper quoll, brannte heiß auf ihren Fingern. Der golden-kupferne Greif starrte sie zornig an. Sie fragte nicht, was die Greifen wohl mit ihr täten, wenn sie deren König nicht heilen könnte. Sie dachte vielmehr daran, wie der Greifenmagier mit seiner strengen Stimme zu ihr gesagt hatte: Dann denke ich, dass du wohl kaum Kräuter benötigst.
Hatte er womöglich recht? Was benötigte sie dann? Betrachte ihn als ganz und heil ... und er wird wieder ganz und heil sein. Sie starrte auf die blutigen Federn unter ihren Händen und stellte fest, dass sie diese entsetzliche Wunde wirklich heilen und den Greifen wieder heil und ganz machen wollte. Sie wollte es. Trotzdem wusste sie nicht, was zu tun war. Sie nahm die Hände weg und blickte hilflos Kairaithin an, voller Furcht, er könnte zornig sein, obwohl sie doch einfach nur überfordert war.
Der Greifenmagier wirkte nicht zornig, vielleicht aber etwas ungeduldig. Er nahm eine von Kes' Händen zwischen seine beiden und hielt sie so fest. Hitze strömte ihr den Arm hinauf, breitete sich rasend schnell bis in die Schulter aus und von dort zum Herzen hinab. Kes schnappte nach Luft. Es tat aber im Grunde nicht weh, war nur ein seltsames Gefühl, als hätte sich das eigene Blut in den Adern in eine fremde Substanz verwandelt.
»Geschöpf der Erde«, sagte Kairaithin, der ihre Hand losließ, aber ihre Augen mit dem Blick gebannt hielt. »Du lernst vielleicht noch, Feuer zu verstehen. Greife nach dem Feuer, und es wird dem Weg folgen, den ihm dein Wille bahnt, wie ein Brand dem trockenen Holz über den Felsboden hinweg folgt.«
»Danach greifen?«, fragte Kes stockend.
»Mache es zu einem Teil deines Wesens. Ich werde dir Feuer geben. Lass dich im Herzen vom Feuer treffen.« Der Greifenmagier beugte sich vor, starrte sie an und versuchte, sie mit dem Willen zu bewegen, dass sie verstand.
Kes erwiderte seinen Blick. Lass dich im Herzen vom Feuer treffen. Sie stellte sich einen Pfeil vor, der aus der Sonne auf sie herabschoss, gelenkt von Kairaithins Willen: ein brennender Pfeil ... ein goldener Pfeil, der
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