Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grenzen der Sehnsucht

Grenzen der Sehnsucht

Titel: Grenzen der Sehnsucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel Kraemer
Vom Netzwerk:
ein paar Selbstdarsteller, die um alles in der Welt nicht so normal sein wollen wie alle anderen. Zum Beispiel Alfredo, der eine Mischung ist aus allem: Künstler, Pornostar und Selbstdarsteller. Handschriftlich hat Alfredo über seinem Porträt vermerkt: „In der Realität, in der wir leben, flüchten wir uns in Träume und schaffen uns unsere eigene Welt.“
    Ein Motto, das gut zu diesem surrealen Abend mit Champagner und Edelhäppchen passt, hier in diesem aufgeschickten, mittelalterlichen Mühlenambiente, wo die Leute nun geduldig Schlange stehen, um neben der Wanders mit ihrer blonden Perücke fotografiert zu werden.
    Neubrandenburg, die frühere sozialistische Mustermetropole im Norden, scheint ohnehin eine etwas unwirkliche Stadt zu sein: an jeder Ecke aufwändig saniert, renoviert und herausgeputzt, sieht man ihr nicht im geringsten an, wie schlecht es in Wirklichkeit um sie steht. Diagnose: zunehmende Arbeitslosigkeit, dramatischer Bevölkerungsschwund – und eben schleichender Realitätsverlust.
    Mathias Trägner, einer der einheimischen Schwulen, die mit ihren Partnern auf den Fotos porträtiert sind, schätzt, dass gut 35 Prozent in der Region ohne Arbeit sind, wenn man die zahlreichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nicht berücksichtigt.
    „Kurz nach der Wende hatte Neubrandenburg hunderttausend Einwohner, inzwischen sind nur noch 70.000 übrig; die Leute hier sind scharenweise weggezogen.“
    Auch sein Lebensgefährte ist die meiste Zeit über nicht zu Hause. Er ist Koch und verdient sein Geld durch Saison-arbeit in Österreich.
    Der 38-jährige Sozialarbeiter engagiert sich im Verein Rosalila, einem Aufklärungsprojekt, dessen Räume im Zentrum der schrumpfenden Stadt untergebracht sind, nur wenige Schritte von der Fußgängerzone entfernt. „Queerworld“ steht in großen Lettern über dem Ladengeschäft mit dem riesigen Schaufenster, in dem es unter anderem Bücher, Zeitschriften, Postkarten und Regenbogenhandtücher zu kaufen gibt. Am Samstag Morgen nach Lilo Wanders Auftritt findet hier ein Brunch statt. Auch die Fotoausstellung ist dabei ein Thema, mit der die anwesenden Männer allerdings nicht so zufrieden sind.
    „In der Eröffnungsrede war von Menschen die Rede, die anders leben und anders lieben“, sagt Andre Sandmann, Vorsitzender des Vereins. „Aber schwules Leben ist nicht so anders und exotisch, wie das die Bilder vermitteln. Das läuft unseren Bemühungen ganz und gar zuwider. Wir versuchen hier immer, Normalität zu vermitteln. Ich hätte mir mehr Alltagsbilder gewünscht, mehr Schwule aus der Region.“
    Seit über zehn Jahren macht der Verein nun Aufklärungsarbeit, unter anderem an Schulen und in Betrieben. Wie hat sich denn ihrer Ansicht nach die Akzeptanz von Homosexualität in der Bevölkerung entwickelt?
    „Das ist zwiespältig“, meint Andre. „Wenn man den Fernseher anschaltet, sieht man Schwule in jeder Fernsehserie und hat das Gefühl, dass alles ganz normal geworden ist, und das ist ja auch schön. Im konkreten Fall sind die Leute allerdings nicht mehr so tolerant. Und es gibt immer noch Lehrer, die einem im Brustton der Überzeugung sagen, dass an ihrer Schule kein Schüler schwul ist.“
    Mathias teilt diese Einschätzung. „Der Verfolgungsdruck ist weg, das schon. Aber ich bin mir sicher, dass mehr als die Hälfte der Besucher auf der Ausstellungseröffnung gedacht haben: ,Die dürfen ruhig schwul sein, aber mich sollen sie damit gefälligst nicht behelligen.’ Wir haben hier die Erfahrung gemacht, dass sich nicht wirklich etwas geändert hat, nicht in der Schule, nicht im Elternhaus, nicht bei den Lehrern, nicht am Arbeitsplatz. Eltern schicken ihre Kinder immer noch zum Psychiater oder schmeißen sie raus. Die Fälle von Diskriminierung unter jüngeren Leuten haben sogar wieder zugenommen, und sie sind schlimmer als früher, weil die allgemeine wirtschaftliche Situation schlechter ist.“
    Besonders, wenn in der Werbung und in Lifestylezeitschriften der Eindruck vermittelt wird, dass Schwule wohlhabender seien und die besseren Aufstiegschancen hätten.
    Über solche Klischees kann Marco nur den Kopf schütteln. Der 30-Jährige ist seit zehn Jahren arbeitslos, mit einigen Unterbrechungen. Als es die DDR noch gab, wollte er „Facharbeiter für Filmwiedergabetechnik“ werden.
    „Dann kam die dämliche Wende, und ich musste feststellen: Diesen Beruf gibt es in der BRD nicht. Ich habe dann eine Lehre zum Einzelhandelskaufmann gemacht und mir eine glorreiche

Weitere Kostenlose Bücher