Grenzen der Sehnsucht
bis auf den letzten Platz ausverkauften Saal. „Ich bin die Lilo Wanders, und ich habe ein großes Herz“, singt sie.
Applaus.
Dann setzt sie sich, erzählt etwas von Implantaten im Hintern, auf die sie Acht geben müsse, und schlägt die Beine übereinander.
Das Publikum tobt.
Es gerät sogar in Verzückung, als sie ein Glas Sekt mit einem Schluck wegkippt. Eine Geste als running gag, die sie sich vermutlich bei Georgette Dee abgeguckt hat.
Und weil sie im Osten auftritt, hat sie sich einen ExtraSpruch ausgedacht, um das Publikum für sich zu gewinnen.
„Was Sexualität angeht, habt ihr im Osten noch mal Glück gehabt. Wir im Westen wurden alle unterdrückt durch die Kirchen“, sagt sie.
„Hm“, murmelt die Frau neben mir, „und bei uns ist die freie Liebe praktiziert worden, oder was?“
Bei allem, was recht ist, aber für diese Anbiederung erntet die Wanders nur ein leises Raunen. Das tut der Stimmung allerdings keinen Abbruch. Staunend hört sich das Publikum die West-Biografie von Lilo Wanders an, die eigentlich Ernie Reinhard heißt, sich als schwuler Mann definiert und zusammen mit seiner Ehefrau zwei eigene Kinder sowie eine Pflegetochter hat. Aber das sagt er nicht, denn an diesem Abend ist nur die Diva in ihm gefragt.
Was sie nicht alles schon gemacht hat! Sexfilme synchronisiert, zum Beispiel.
„Und ich war mal Putzfrau im Puff. Aber das erzähl ich jetzt nicht.“
„Bitte! Bitte!“, fleht frenetisch das Publikum.
„Okay, ich war Putzfrau im Puff. Da kommt einer rein und sagt: Ich will die Putzfrau!“
Die interessanteste Station im Leben von Lilo Wanders war zweifellos die legendäre Schmidt-Show im Hamburger Tivoli, an der Seite von Corny Littmann und Marlene Jaschke. Über 30 Sendungen wurden damals ausgestrahlt, „Ohnsorg-Theater auf LSD“, so umschreibt es Wanders heute.
Tatsächlich war es der Wegbereiter allen Trashfernsehens, eine Revolution der Fernsehgeschichte, lange bevor sich das Wort „Trash“ im deutschen Sprachgebrauch etabliert hatte. Amateure aus dem Publikum stürmten die Bühne und machten sich freiwillig lächerlich – damals noch eine Sensation. Und dann die ganzen alten Stars, die aus der Versenkung geholt wurden: Rex Gildo, die Jakob-Sisters, Freddy Quinn. Durch die Schmidt-Show-Brille bekamen sie einen ironischen Touch, und schon vergrößerte sich das Fanpublikum um ein Vielfaches.
„Erinnert ihr euch noch an die eine Show mit der falschen Inkaprinzessin Yma Sumac, die wütend ihre Nummer abbrach, weil im Publikum jemand kicherte?“, fragt die Wanders.
„Ja!“, ruft das Publikum und kichert.
Dabei liegt das mehr als zwölf Jahre zurück. Offenbar handelt es sich hier um ein echtes Fanpublikum, das sich gerne auf solche Ohnsorg-LSD-Trips einlässt, wie es ja auch dieser Abend ein bisschen ist.
Erst zum Schluss kommt Wanders auf den eigentlichen Anlass ihres Besuchs zu sprechen: die Fotoausstellung des Mecklenburger Fotografen Bernd Lasdin, der hier in den 700 Jahre alten Räumen auf 100 Fotos schwule und lesbische Pärchen zeigt. Wanders lobt den Fotografen und verspricht, den Ausstellungskatalog in ihrer Sendung zu promoten.
Dann kann sich, wer möchte, mit Wanders fürs Familienalbum fotografieren lassen.
Ein paar Leute aus dem Publikum interessieren sich tatsächlich nicht nur für den Travestiestar, sondern auch für die Fotos.
„Guck mal“, sagt eine Frau zu ihrem Mann, „die Wohnungen von den älteren Schwulen sind alle mit Antiquitäten vollgestellt, und bei den Lesben stehen immer Bücherregale von Ikea im Hintergrund.“
Wie sich herausstellt, sind nur gut die Hälfte der abgebildeten Pärchen aus Mecklenburg-Vorpommern. Ganz normale Pärchen eben, aber weil ihnen der schillernde Glanz exzentrischer Großstadt-Homos fehlt, wie ihn Heteros nun mal lieben, war der einheimische Fotograf auf die Idee gekommen, einfach mal bei Rosa von Praunheim anzuklingeln, ob der nicht mit ein paar Typen aushelfen kann, die vielleicht auch so schräg sind wie Lilo Wanders. Für die meisten Heterosexuellen ist Rosa von Praunheim nämlich immer noch die erste Adresse, wenn es um schwule Themen geht. Jedenfalls dann, wenn man damit provozieren und Tabus brechen will.
Und siehe da: Praunheim hat ihm die gewünschten Exotiker vermittelt – mindestens die Hälfte der Fotos zeigen also schrille Bekannte von Praunheim aus Berlin. Der Altmeister selbst ist mit einem lebensgroßen Stofftiger abgebildet. Man sieht exzentrische Künstler, Muskelmänner und
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