Grenzen der Sehnsucht
Vergangenheit. Wie viel Power verbirgt sich denn heute noch dahinter?
„Leipzig wird überschätzt“, wiegelt Berninger ab. „Die Erwartungshaltungen nach der friedlichen Revolution im Herbst 1989 waren groß. Nach der Wende hat man in die Stadt immer etwas reininterpretiert, was sie schon nach der Boomzeit zwischen 1880 und 1925 nicht mehr war. Aus der Zeit stammt ja auch das neue Rathaus, das schon von weitem aussieht wie eine riesige Burganlage. Hier kam die erste deutsche Tageszeitung heraus, Leipzig war Verlagsstadt, aber schon damals sind einige nach Berlin abgezogen. Heute ist davon nichts mehr übrig.“
Aber immerhin erfreut sich doch die Leipziger Buchmesse großer Beliebtheit?
„Ja, das stimmt, die ist auch sehr angenehm und wird als Publikumsmesse gut angenommen. Leipzig ist eine sehr junge Stadt, nicht was das tatsächliche Durchschnittsalter betrifft, sondern das Denken. Es gibt hier beispielsweise eine sehr große Offenheit gegenüber zeitgenössischer Kunst, und nicht das übliche Geschimpfe wie anderswo. Die Leute sind sehr interessiert.“
Eines der Kunst-Zentren hat sich zum Beispiel in der alten Baumwollspinnerei angesiedelt, einem großen, über hundert Jahre alten Industriekomplex, der seit der Wende schrittweise saniert wird und in dem sich bislang mehr als 50 Künstler eingemietet haben – in der Nachbarschaft von Möbeldesignern, Handwerkern, Theatern und Tanzgruppen. Inzwischen zählt die historische Gebäudeanlage zu den kulturellen Leuchttürmen des Ostens.
Hat denn die Wende dem schwulen Leben eine ähnliche Blütezeit beschert?
„Sie hat eine Menge Vielfalt gebracht. Für mich persönlich war das die sexuelle Befreiung, mein zweites Coming-out, mit all den neuen Möglichkeiten: schwule Saunen, Fetischgeschichten, ach was, alle möglichen Konstellationen konnte ich ausleben. Zuvor kannte ich nur Blümchensex. Vor allem Berlin war für mich eine Offenbarung. In den ersten Jahren war ich ständig Wochenendtourist. Ich ging von der Sauna in den Sexclub, auch bei der SM-Gruppe Quälgeister habe ich mich ausgetobt.“
Und heute?
„Inzwischen ist mir das zu anstrengend. Irgendwann empfand ich diese Phase, in der ich nur schwul unterwegs war, als einseitig und einschränkend. Meine Sichtweise hat sich geändert, inzwischen bin ich froh, diesen Schlenker gefunden zu haben. Nach all den Jahren in der behüteten DDR-Community war diese Zeit vielleicht von Nachholbedürfhissen geprägt. Heute hab ich kaum noch schwule Freunde, die meisten sind heterosexuell.“
Das hört sich so an, als müsste man zwangsläufig zwischen einer Homo- und einer Heteroweit hin- und herpendeln, so als gäbe es nicht viel dazwischen. Was ist mit dem schwulen Leben in Leipzig? Überschneidet sich das nicht mit Kunst und Kultur, mit den anderen Dingen, die ihn heute eher beschäftigen?
„Es kommt mir so vor, als wären wir hier sehr provinziell, was die Szene betrifft. Es gibt zwar eine große Sauna, dafür aber kaum eine gutgehende Kneipe, und es fehlt zum Beispiel ein Buchladen oder ein Café wie das Gnosa in Hamburg. Von den über 30-Jährigen, die ich kenne, geht kaum einer in Leipzig aus. Ein Bekannter von mir lebt sein schwules Leben ausschließlich in Berlin. Dazu hätte ich keine Lust mehr. Ich will meinen schwulen Lebensinhalt nicht in eine andere Stadt verlagern.“
Heute ist seine lokale Identität stärker ausgeprägt als seine schwule. Die Stadtentwicklung in Leipzig kümmert ihn inzwischen mehr als die schwule Szene.
Das war beileibe nicht immer so. Denn eigentlich gehört Berninger zu den Vorkämpfern der Bewegung. Schon zu DDR-Zeiten war er aktiv, als Leipzig noch zur Avantgarde der schwul-lesbischen Emanzipation zählte. In den frühen Achtzigern wurde hier eine Selbsthilfegruppe gegründet, die im Umfeld der Evangelischen Kirche angesiedelt war. In vielen anderen Städten in der DDR nahm man sie zum Vorbild. Es entstanden landesweit immer mehr Gruppen, von denen sich allerdings vorwiegend religiöse Schwule und Lesben angesprochen fühlten.
Ende der achtziger Jahre kam eine Bewegung innerhalb der FDJ, der staatlichen Jugendorganisation der DDR, auf, die zur Gründung einer homosexuellen Initiative führte, sie hieß RosaLinde und existiert als schwul-lesbisches Zentrum noch heute. Michael Berninger, der damals einen Jugendclub betreute, gehört mit zu den Gründern. Das war zu einer Zeit, als Schwule und Lesben nicht einmal Partnerschaftsgesuche in Zeitungen aufgeben durften, wie man
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