Grenzen der Sehnsucht
„im Grunde liegt das an diesem Scheiß-System!“ Ein Gag, dessen satirischer Tonfall vermutlich gar nicht mal so übertrieben war.
Mit den einheimischen Bewohnern der alten Universitätsstädte hatte die Studentenschar nur wenig zu tun; Kontakte zur „arbeitenden Bevölkerung“, wie der Rest der Welt gerne genannt wurde, waren kaum vorhanden. Tatsächlich lebten die Studenten in riesigen Parallelgesellschaften mit einer eigenständigen Kultur, die zwar wenig Raum ließ für das Studieren nach Lehrplan, dafür aber umso mehr für das Debattieren: über die Machtverhältnisse, über das Verhältnis zwischen Männern und Frauen – und natürlich über Sex und freie Liebe.
Die Studentenbewegung war es, die entscheidenden Einfluss auf die Schwulenbewegung der siebziger Jahre ausübte. Wer sich für homosexuelle Gleichberechtigung engagieren wollte, musste politisch links stehen und vorgeben, das bestehende Gesellschafts- und Wirtschaftssys-tem stürzen zu wollen.
Heute kann davon keine Rede mehr sein.
Göttingen im Herbst 2004. Vor ein paar Wochen hat das Herbstsemester begonnen, und das historische Stadtzentrum rund um den Marktplatz ist von Studenten überflutet. In den Cafés wimmelt es am späten Nachmittag nur so von jungen Leuten, manche von ihnen mit Fachliteratur in Händen oder einem Notebook auf dem Tisch. Anders als eine Generation vor ihnen scheinen sie von äußerlichen Protestzeichen nicht so viel zu halten. Keine Sticker und Buttons mit politischen Losungen und Emblemen an den Jacken; um den Hals keine Palästinensertücher, die noch in den achtziger Jahren hoch im Kurs standen, weil sie ein Symbol für die Solidarität mit allen Unterdrückten dieser Welt waren. Und dass lange Haare einmal mit dem Aufbegehren gegen die Gesellschaft zu tun gehabt haben, kann sich kaum einer von ihnen überhaupt vorstellen. Rein äußerlich unterscheiden sich die Studenten offenbar kaum noch von ihren Altersgenossen, was vielleicht auch daran liegt, dass sich mittlerweile keine Oma mehr von einem schrägen Outfit oder einem Spontispruch provozieren lässt. Aber auch in den Straßen ist von politischem Missionseifer nichts zu spüren. Keine Spur von Graffiti an den Hauswänden, und an diesem Nachmittag werden auch keine Flugblätter verteilt, weder von Attac oder der PDS oder sonst einer kapitalismuskritischen Organisation. Göttingen ist, wie es scheint, längst keine rebellische Hochburg mehr, in der mit unbändiger Energie gegen bürgerlichen Muff und vermeintliche Spießigkeit rebelliert wird. Oder ist das ein oberflächlicher Eindruck?
Nur einen Katzensprung vom Wahrzeichen der Stadt entfernt – dem bronzenen Gänseliesel am Marktbrunnen – befindet sich die Göttinger Aids-Hilfe, wo ich mit Jörg Lühmann verabredet bin. Der 53-Jährige ist dort langjähriger Mitarbeiter. Als Diplompsychologe hat auch er in Göttingen studiert, was freilich schon eine Weile her ist, und zwar just zu den wilden Zeiten, als hier die Studenten auf die Barrikaden gingen. Wie ein Alt-Hippie sieht Lühmann allerdings nicht aus. Er trägt eine trendige Brille, doch auch das führt auf die falsche Fährte. Eigentlich ist er eher so der bärige, jugendlich erscheinende Daddy-Typ in Jeans. Er trägt kurzes Haar, einen kurzen Bart und spricht mit tiefer, ruhiger, rauchiger Stimme. Auf dem Tisch des Beratungsraumes stehen noch Kaffeetassen von der vorhergehenden Besprechung; Lühmann lehnt sich erst mal gemütlich auf seinem Stuhl zurück und dreht eine Zigarette. Das zumindest ist ein Ritual, das er sich aus seiner Studentenzeit bewahrt haben muss.
Wie lebt es sich heute in einer Universitätsstadt wie Göttingen? Ist das Klima immer noch politischer als anderswo?
„Da ich immer hier gelebt habe, fehlt mir der Vergleich mit anderen Städten. Das Auffälligste hier ist, dass die Straßen und Plätze wie leergefegt sind, nachdem die Ferien begonnen haben – die meisten Studenten kommen ja von irgendwo anders her. Zwei Wochen vor Semesterbeginn ist plötzlich wieder alles ganz belebt. Aber sonst? Ich habe den Eindruck, das Studium ist ruhiger, sachlicher, leistungsorientierter geworden. Von der Illusion, die Gesellschaft auf den Kopf stellen zu können, ist jedenfalls nichts mehr übrig.“
Bedauert er denn, dass sich die linken Utopien der siebziger Jahre mittlerweile in Luft aufgelöst haben?
Lühmann schüttelt den Kopf.
„Nein, das hatte früher ja etwas sehr Zwanghaftes. Ich erinnere mich, Anfang der siebziger Jahren ging
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