Grenzen der Sehnsucht
ich das erste Mal zu einem Treffen der Homosexuellen Aktion Göttingen, es gab ja damals hier in der Stadt noch kein kommerzielles Angebot für Schwule. Ich fand das furchtbar in der Gruppe, die Leute waren voller Selbsthass und emotional absolut unfähig, aufeinander einzugehen. Gebote und Verbote wurden aufgestellt, nach denen man sich richten sollte: Der Wunsch nach einer Beziehung galt als problematisch, weil man ja keine Besitzansprüche haben sollte, andererseits war auch der Sex auf Klappen verpönt. Einmal wurde ein Thesenpapier für ein sogenanntes ‚sozialistisches Patientenkollektiv’ diskutiert, eine Art Gegenentwurf zum ‚krankmachenden Kapitalismus’. Damit konnte ich überhaupt nichts anfangen, das fand ich absolut wirr. Ich hab mich dann erst mal ein paar Jahre ausgeklinkt, in einer Wohngemeinschaft mit Heteros und Kindern gelebt und mich auf mein Studium konzentriert. Meine Abschlussarbeit drehte sich um Theorien zur Entstehung von Homosexualität. Dabei merkte ich, dass ich selbst mit meinem Schwulsein noch gar nicht im Reinen war. Als ich das Gefühl hatte ,so wie ich bin, bin ich gut’, erst dann habe ich wieder Kontakt zur Bewegung aufgenommen.“
Freilich haben die Achtundsechziger dennoch Spuren bei ihm hinterlassen, vor allem das Freiheitsgefühl, das die Rockmusik dieser Zeit transportierte: „Ich war der Woodstock-Philosophie verfallen, bewunderte Bob Dylan und Lou Reed. Aber irgendwann hab ich gemerkt, dass diese Flower Power-Welt nicht wirklich existiert. Mein Studium hatte ich beendet, ich konnte nicht ewig als Hippie leben und brauchte Geld und Arbeit.“
So erging es nicht nur ihm. Ernüchterung hatte sich allenthalben breitgemacht. Die Studentenbewegung hatte sich erschöpft, und dennoch waren die verkrusteten Strukturen der alten Bundesrepublik unwiderruflich aufgebrochen. Auch wenn der Kapitalismus partout nicht zusammenbrechen wollte, hatte sich das gesellschaftliche Klima gegenüber neuen Lebensstilen geöffnet. Die Vertreter der Schwulenbewegung waren mit ihrem Gesicht in die Öffentlichkeit getreten – und das war schon mal ein großer Schritt.
Dennoch blieb die Szene zerrissen, bis sie in den achtziger Jahren durch die große Krise Aids in der Not zusammenfand. Nie war die Solidarität unter Schwulen so groß wie in den Jahren nach dem anfänglichen Schock.
„Die Arbeit in der Aids-Hilfe kam für mich genau zum richtigen Zeitpunkt“, sagt Lühmann. „Dort habe ich für mich eine Heimat gefunden.“
Viele Schwule aus der orientierungslosen Bewegung fanden in den Aids-Hilfen ein neues Betätigungsfeld. Die Präventionsarbeit erwies sich damals als ein großer Erfolg. Sie trug nicht nur zur Eindämmung der Neuinfektionen bei, sondern auch zu mehr Verständnis für Homosexualität. Unter dem Druck der Realität veränderte sich die politische Stoßrichtung: Schwule Emanzipation bedeutete nun nicht mehr, die Gesellschaft rundheraus abzulehnen und zu bekämpfen, sondern sich um Akzeptanz zu bemühen und sich gegen Ausgrenzung zu wehren.
An keiner anderen Einrichtung lässt sich dieser Wandel so deutlich ablesen wie am Tagungshaus Waldschlösschen in der Nähe von Göttingen, das 1981 eröffnet wurde, also wenige Jahre vor der Entdeckung des HI-Virus. Das Waldschlöss chen ist inzwischen eine „in Deutschland einzigartige Bildungseinrichtung, die ihre Wurzeln in der Schwulenbewegung hat“ – so heißt es heute stolz auf der Website, deren Gestaltung eine Ahnung davon vermittelt, wie weit die Professionalisierung der Szene mittlerweile vorangeschritten ist. Auf einer Aufnahme aus der Vogelperspektive erinnert die denkmalgeschützte und stilvoll sanierte Jugendstilvilla, die mitten in einer waldreichen Mittelgebirgslandschaft liegt, an Bilder aus dem Vorspann der Schwarzwaldklinik, und genauso idyllisch und unbeschwert kommen auch die Fotos daher, die das Innenleben des Hauses anpreisen: Das Kaminzimmer etwa, das von einem Blumengarten umgeben ist und als Seminarraum dient, oder die geräumige Sauna mit Zugang zum Garten, die den Gästen zur Erholung bereitsteht. Rund zwanzig Mitarbeiter sind allein mit dem laufenden Betrieb des Hauses beschäftigt, zusätzlich werden mehr als 150 Dozenten aus ganz Deutschland aufgelistet – vom Soziologen bis zum Theologen, vom bildenden Künstler bis zum Musiker. Auch Lühmann gibt Seminare im Wald schlöss chen. Dort können Schwule und Lesben aus einer ganzen Bandbreite an Angeboten auswählen: Kurse, in denen Tanzen, Spanisch und
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