Grenzen der Sehnsucht
Gebärdensprache gelehrt wird. Oder Seminare für Menschen, die dort lernen, so gut wie möglich mit HIV und Aids umzugehen.
Das Waldschlösschen hat sich fest etabliert, es ist inzwischen zum Aushängeschild der Szene geworden. Doch auch wenn es tief in der Schwulenbewegung wurzelt, stellt man beim Surfen durch das Programm schnell fest, dass von den subversiven und sozialistischen Idealen aus den siebziger Jahren nichts übriggeblieben ist. „Die Kunst des Führens – eine berufsbegleitende Fortbildung“, „Karriere-Coaching für Lesben“ oder „English for your Job“ heißen nun die Seminare, die darauf verweisen, dass sich die Zeichen der Zeit radikal geändert haben.
Dass es dabei nicht nur um Pragmatismus und Anpassung an den Realitätsdruck geht, sondern um eine tiefgreifende Veränderung des schwulen Selbstverständnisses, macht just der Titel eines Workshops von Jörg Lühmann deutlich, der sich an junge Homos bis zum 30. Lebensjahr richtet: „Finde heraus, was du vom Leben willst!“
Prägnanter könnte man den Wandel nicht zum Ausdruck bringen: Die Zeiten des schwulen Kollektivdenkens sind vorbei; ein Lebensentwurf, der für den einen passend sein mag, kommt für einen anderen möglicherweise zum falschen Zeitpunkt. Jeder muss seinen eigenen Weg finden; kein Mensch möchte sich heute noch sein Leben von einem Kollektiv vorschreiben lassen. Schon gleich gar nicht, wenn dabei eine selbsternannte Elite bestimmen will, was richtig ist und was nicht.
Welche Bedeutung hat denn unter nachwachsenden Generationen heute eigentlich noch das Bewusstsein, einer schwulen Gemeinschaft anzugehören?
Lühmann dreht sich wieder eine Zigarette. „Mein Eindruck ist, dass die jüngeren Schwulen für ihre persönliche Entwicklung die Szene nicht mehr so dringend brauchen“, sagt er. „Auf öffentliche schwule Treffpunkte und Solidarität sind die heute nicht mehr angewiesen. Man lernt sich übers Internet kennen, geht gelegentlich auch mal schwul aus, aber das Zugehörigkeitsgefühl, das es vor einer Generation noch gab, existiert so nicht mehr.“
Ein Phänomen, das nicht nur mehr Freiheit, sondern auch Probleme mit sich bringt. Zumindest für die Aids-Hilfen, die zunehmend Schwierigkeiten damit haben, gegen die Ausbreitung von HIV unter jüngeren Schwulen anzugehen – nicht zuletzt deshalb, weil sich diese nicht mehr unbedingt als geschlossene Zielgruppe ansprechen lassen. Fiebernd wird derzeit nach neuen Strategien für die Aids-Prävention gesucht. Doch wie könnten die aussehen?
An der Wand des Beratungsraums hängt das Plakat der neuen Safer-Sex-Kampagne, das ausnahmsweise mal nur Frauen zeigt – prominente Frauen, wohlgemerkt. Bärbel Schäfer, Hannelore Eisner und Sandy posieren darauf wie auf dem Cover eines Lifestylemagazins. Die Schlagzeile dazu lautet: „Wir wissen, was wir wollen: Leben! Lieben! Schutz vor HIV!“
Ein Motiv, das auf den ersten Blick an ein weibliches Zielpublikum gerichtet ist, und doch könnten sich auch Schwule davon angesprochen fühlen, denn es macht geradewegs den Eindruck, als hätte Sex and the City dafür Pate gestanden, also jene Serie, mit deren Heldinnen sich auch viele schwule Männer identifizieren. Geschlechtszugehörigkeit oder sexuelle Orientierung sind für die Vermittlung der Botschaft auf dem Plakat gar nicht mal entscheidend, sondern souveräne Ausstrahlung, Individualität und vor allem: eine Aura von Unabhängigkeit. Auch wenn Zweifel angebracht sind, dass das Motiv eine breite Masse von jüngeren Schwulen anspricht – die Idee, die dahinter steckt, weist schon mal in eine Richtung, die der gewandelten schwulen Identität Rechnung trägt. Es geht darum, selbstbewusst im wahrsten Sinne des Wortes zu leben, auf sich selbst zu achten, sich von niemandem zu etwas drängen zu lassen und, wenn es darauf ankommt, auch gegen den Druck einer Gruppe zu bestehen, kurzum: einen eigenen Weg für sein Leben zu finden. So, wie Lühmann das auch den Jugendlichen in seinem Seminar lehrt.
Lühmann schaut auf die Uhr. Er hatte schon am Telefon angekündigt, unserem Gespräch nicht viel Zeit widmen zu können; in wenigen Wochen ist Welt-Aids-Tag, und bis dahin ist sein Kalender mit Terminen gut gefüllt.
Eine Frage hätte ich da allerdings noch. Auf einem Fernseher in einer Ecke des Raumes sind ein paar Pokale versammelt. Lühmanns Name ist in einem eingraviert, und darunter: „Mann des Jahres“. Der ist ihm von der Bar Faces verliehen worden, der einzigen schwulen Bar
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