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Grenzen der Sehnsucht

Grenzen der Sehnsucht

Titel: Grenzen der Sehnsucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel Kraemer
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Teilweise sind sie in hellen Farben gestrichen. Das Interieur macht einen harmonischen Eindruck. Vermutlich könnte nicht mal ein Feng-Shui-Meister ein störendes Detail aufspüren. Am Fenster steht eine Staffelei.
    „Ich hab neulich mit dem Malen angefangen, das entspannt mich“, sagt Ziya.
    Plötzlich flitzen zwei Katzen durch den Raum. Ansonsten hat er keine Mitbewohner. „Ich würde mir das heute gut überlegen, ob ich mir so was noch mal anschaffen würde“, sagt er. „Die zwei sind ja süß und niedlich, aber es stört mich, dass sie überall in der Wohnung ihre Haare lassen. In meinem Beruf hab ich schon genug mit Haaren zu tun.“
    Vor ein paar Jahren hat Ziya einen Friseursalon in einer Seitenstraße vom Ku’damm aufgemacht. „Die Geschäfte laufen gut“, sagt der 43-jährige, „obwohl man merkt, dass die Leute sparsamer geworden sind und seltener als früher kommen.“ Die Krise hat jedenfalls dazu geführt, dass sich seit einiger Zeit immer mehr Friseure selbstständig machen. Und alle liefern sich mit ihren Salons gegenseitig einen harten Konkurrenzkampf – nicht zuletzt um die Originalität des Ladennamens, wie beispielsweise Haar scharf oder Kaiserschnitt.
    Einige legen demonstrativ ein paar Homo-Zeitschriften ins Ladenfenster – vielleicht, weil es nun mal dem Vorurteil entspricht, dass gute Friseure schwul sein müssen?
    „Ich hab bei mir im Geschäft keine Szenemagazine ausliegen“, hält Ziya dagegen. „Warum auch? Mir ist das egal, ob meine Kunden homo oder hetero sind.“
    Doch zumindest bei ihm zu Hause auf seiner Wohnzimmer-Couch liegt sie: die aktuelle Siegessäule. Jene Ausgabe mit dem umstrittenen Cover. Von dem Ärger, den es darum gab, wusste er überhaupt nichts. Er schaut überrascht drein, als ich ihm davon erzähle. Die Reaktionen darauf scheint er jedoch eher für übertrieben zu halten. Trotzdem stößt ihm die „Türken raus!“-Parole übel auf, wie er sagt.
    „Ich finde das ganz dumm! Die meisten Türken, die hier in Berlin leben, sind einfache Menschen. Viele kommen aus anatolischen Dörfern, sie haben für diese Art von Sarkasmus und Ironie keinen Sinn. Von Schwulen und Lesben wissen sie kaum irgendwas, sie haben ihre Vorurteile, und dann sehen sie so einen Spruch. Das macht die Situation nur komplizierter. Ich hätte mir einen sensibleren Umgang mit dem Thema gewünscht. Dieses mangelnde Feingefühl ist einfach typisch für manche Deutsche.“
    Ich werfe die Frage auf, was an Ziya eigentlich typisch türkisch ist. Die Wohnung ist es jedenfalls nicht. Zumindest erinnert sie nicht im geringsten an die orientalische Basar-Atmosphäre auf dem Ikea-Plakat, mit dem die Stadt derzeit zugepflastert ist. Darauf ist eine türkische Familie in ihrem Wohnzimmer zu sehen, mit schwerem Teppich, sperriger Schrankwand und Gemälde in dickem Goldrahmen, der Raum vollgestopft mit Accessoires, die man eigentlich gar nicht bei Ikea kaufen kann, sondern nur in Türkenläden. Keine Chance für frei florierende Energieströme: ein Feng-Shui-Meister würde in diesem Ambiente einen Migräneanfall erleiden. Der Clou des Plakats ist jedoch, dass die Türken wasserstoffblonde Perücken tragen. Die Überschrift lautet: „Schwedische Verhältnisse in Berlin.“ Mit dieser Kampagne möchte Ikea endlich dem lästigen Konkurrenten Möbel-Höffner die türkische Stammkundschaft abjagen. Ob diese Art von Ironie den Geschmacksnerv der Zielgruppe trifft?
    „Was an mir typisch türkisch ist?“, wiederholt Zyia meine Frage und überlegt ein paar Sekunden. „Ich bin gastfreundlich, offen und hänge sehr an meiner Familie. Bei den Deutschen ist das ja nicht unbedingt so. Ich wundere mich manchmal über jene, die ihren Eltern, Geschwistern oder überhaupt allen Mitmenschen gegenüber gleichgültig sind und deren Leben sich einzig um sich selbst dreht. Im Westen hat der Wohlstand dazu geführt, dass viel Menschliches verloren gegangen ist. Die Ossis sind da anders. Irgendwie sozialer. Familiärer. Sie haben was von der südlichen Mentalität. Wenn jemand aus der Familie einen neuen Freund mitbringt, dann heißt das für alle anderen: Der ist in Ordnung, der gehört zu uns! Da muss man nicht vorsichtig sein und eine Distanz halten. Ein Ex-Freund von mir ist aus dem Osten. Ich bin dort immer herzlich von der Familie aufgenommen worden.“
    Als Ziya nach Berlin kam, gab es für ihn erst mal nur den Westen. Der Osten war ja noch durch die Mauer abgetrennt. Davor lebte er in Hamburg, aufgewachsen in der

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