Grenzen der Sehnsucht
vorne auf den Boden und richtet sich schließlich wieder auf. Dann noch mal der nahezu selbe Bewegungsablauf. Diesmal ist es allerdings der Sonnengruß aus dem Yoga-Unterricht.
Ich kann keinen Unterschied erkennen.
„Siehst du? Das ist fast das Gleiche. Das hat alles seinen Sinn. Mit dem Fasten ist es ähnlich. Was der Islam aus diesen Bräuchen gemacht hat, ist allerdings eine ganz andere Frage. Das Problem ist, dass er sich nicht entwickelt. Alles ist verboten. Was ihm nicht passt, gilt als schlecht. Ich habe damit nichts zu tun, ich war in meinem Leben höchstens fünfmal in einer Moschee.“
Und wie denkt er über die anderen Berliner türkischer Herkunft?
Er zuckt mit den Schultern. „Die meisten sind so gläubig, dass ich mit ihnen nicht viel anfangen kann.“
Die Integrationspolitik macht Ziya wütend. Ihn stört vor allem, dass sich über Jahrzehnte niemand um die Einwanderer scherte und jetzt plötzlich alles anders werden soll.
„Wenn es in Deutschland Probleme gibt, dann passiert lange gar nichts, wie bei der Rente, und ab irgendeinem Zeitpunkt reagieren auf einmal alle kopflos. So was lässt sich nicht von heute auf morgen lösen, dazu braucht man langfristige Konzepte. Besonders die CDU hat versäumt, sich um Integration Gedanken zu machen. Kein Wunder also, dass sich die Türken, die einfach gestrickt sind, von der Gesellschaft abschotten.“
Wie denkt eigentlich die Mehrheit seiner Landsleute über ihren offen schwulen Bürgermeister?
„Das ist nicht einfach zu beantworten“, sagt Ziya, fasst sich ans Kinn und konzentriert sich einen Augenblick. „Ich glaube, am Anfang haben sie ihn eher abgelehnt. Andererseits glaube ich: Wenn sie von seiner Politik überzeugt sind, spielt für sie sein Schwulsein keine Rolle mehr. So genau weiß ich das aber nicht. Die Türken aus meinem Bekanntenkreis haben alle eine tolerante Einstellung. So wie ich.“
Manchmal hat Toleranz auch mit Gleichgültigkeit zu tun. Und das ist auch ganz gut so, denn ein gesundes Maß an Teilnahmslosigkeit ist die Schmiere, die eine Großstadt am Laufen hält. Nur so ist ein friedliches Nebeneinander der Kulturen möglich. In einer Metropole wie Berlin, die von so vielen Spannungsfeldern durchzogen ist wie keine andere Stadt, gilt das umso mehr. Und weil die Subkulturen mitunter hochspezialisiert sind, kann es schon mal vorkommen, dass ein Fetisch-Sex-Club wie das Kit Kat in einer Nachbarschaft residiert, wo die Kundschaft nach durchzechter Nacht beim Hinausgehen auf traditionelle türkische Familien trifft, die wiederum auf dem Weg zur nächsten Moschee sind. In Kreuzberg hat dieses Nebeneinander lange Zeit wunderbar funktioniert. Ja, in Wahrheit funktioniert ganz Berlin nach diesem Prinzip! Nirgendwo sonst sind sich die Bewohner einer Stadt so darüber im Klaren, dass sie sich höchst ungleich sind und längst nicht alles aneinander mögen. Warum sollten sie auch? Dass es hin und wieder dennoch zu kleinen Reibereien kommt, empfindet hier kaum jemand als ein drängendes Problem. Eine Großstadt muss das aushalten können – ansonsten würde es ja auch schnell langweilig werden. Oder etwa nicht?
Köln
Der schwule Mikrokosmos auf wenigen Quadratkilometern
Leben im Realitätsvakuum: Warum der Rosa Karneval
ein Politikum von höchster Brisanz ist
Köln, das ist die Stadt, die sich der bedingungslosen Toleranz verschrieben hat. „Leben und leben lassen“ lautet das Motto, das einem gebetsmühlenhaft um die Ohren geleiert wird, und zwar in allen nur denkbaren Varianten. Ein ähnlicher Leitspruch geht so: „Jeder Jeck ist anders.“ Ein Jeck, das ist die kölsche Bezeichnung für einen Narren, denn Toleranz und Karneval sind hier eng miteinander verflochten. Das eine ist ohne das andere nicht denkbar, zusammen bilden sie das Fundament einer Mentalität, die sich bei weitem nicht nur auf die Hochsaison des Närrischen beschränkt.
Das funktioniert in etwa so: Wenn in Köln irgendwann auch nur der Hauch einer Differenz aufkeimt, dann wird sie sofort bei einer Runde Kölsch ertränkt. Nicht zufällig haben Sprache und Bier dieselbe Bezeichnung. Spätestens nach ein paar Gläsern ist jeder Groll verflogen, um schließlich bei der Erkenntnis anzugelangen: Wir sind doch alle gleich! Denn eigentlich mag man Differenzen gar nicht. Und weil sich ab einer bestimmten Promillegrenze ohnehin gut tolerant sein lässt, haben sich spätestens am Ende des Tages alle wieder lieb und fallen sich in die Arme. In solch einem Klima lebt es
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