Grenzen der Sehnsucht
will, fühlt sich in dieser unerbittlichen Leistungsmaschinerie zwangsläufig als Fremdkörper.
Keine andere Stadt hat eine sexuell so aufgeladene Energie wie Berlin. Einerseits hat das mit der liberalen Großstadtatmosphäre zu tun, die in Berlin seit den zwanziger Jahren Tradition hat. Darüber hinaus ist Religion nirgendwo sonst in Deutschland von so geringer Bedeutung wie hier. Mehr als sechzig Prozent der Bevölkerung gehören nicht mal einer Konfession an. Nicht zuletzt gibt es auch einen Zusammenhang zwischen sexueller Getriebenheit und Arbeitslosigkeit, deren Quote in der deutschen Hauptstadt fast an die Zwanzigprozentmarke heranreicht. Wer keine Beschäftigung hat und von dem Gefühl heimgesucht wird, von der Gesellschaft nicht gebraucht zu werden, kann sein Defizit eine Zeit lang durch Sex überbrücken. Wer sonst kann es sich leisten, unter der Woche um zwei Uhr morgens eine der nicht gerade wenigen Sexpartys zu besuchen?
Für die Unverbindlichkeit ihrer Kontaktkultur werden die Schwulen mitunter auch beneidet. „Von Schwulen lernen“ titelte einmal das alternativ angehauchte Berliner Stadtmagazin zitty auf dem Cover. Dahinter verbarg sich eine Geschichte, in der die „schnelle, anonyme Triebabfuhr“ der Szene in den schillerndsten Farben beschrieben wird. Wie zum Beispiel Sex im Darkroom einer Kneipe: „Wenn gerade kein attraktiver Kandidat am Start ist, kann man die Wartezeit an der Bar überbrücken und sich irgendjemanden schön trinken“, schwärmt die zitty völlig ironiefrei. Oder in aller Öffentlichkeit und „ohne jedes Schamgefühl Hosen tragen, die den Schwanz mit all seinen anatomischen Besonderheiten erkennen lassen.“
Dass gerade die anonyme und kommunikationsarme Atmosphäre in den Darkrooms mit dafür verantwortlich ist, dass sich junge Männer immer seltener vor einer Infektion durch Aids und andere sexuell übertragbare Krankheiten schützen – davon wird in dem Artikel kein Wort verloren.
Ein erstaunliches Phänomen. Aber vielleicht ist der ganze Kult um den Sex auch einfach nur ein grandioses Missverständnis, wie es Max Goldt mal in einer Titanic -Kolumne auf den Punkt brachte, nämlich ein „Auswuchs dieser sexbesessenen Epoche, über die kommende Generationen einst ebenso den Kopf schütteln werden, wie die unsrige es über Krinolinenröcke oder Kommunismus tut“.
Wenn an Goldts Prognose etwas dran sein sollte, dann ist es bis dahin freilich noch ein weiter Weg.
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Es ist schon eigenartig, wie bei manchen das sexuelle Begehren die Sinne und den Verstand zu vernebeln vermag. Die einen leiten aus ihrem persönlichen Lustempfinden eine Art Ersatzreligion ab, der sie ihren Lebensrhythmus und ihre Spontaneität unterwerfen. Andere wiederum fühlen sich dazu berufen, mit derselben Besessenheit und genauso kompromisslos gegen sexuelle Freiheit und Experimentierfreude zu Felde zu ziehen.
In der Regel gehen sich die jeweiligen Hardliner aus dem Weg. Manchmal kommt es allerdings zu unfreiwilligen Begegnungen, wie zum Beispiel beim Besuch eines islamisch-orthodoxen Journalisten in Berlin, der sich auf dem Ku’damm zum ersten Mal in seinem Leben mit einer Clique exhibitionistischer Latexfetischisten konfrontiert sieht. So geschehen in jenem Sommer, in dem die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung eine Tagung anlässlich des fünfzigsten Jahrestags der ägyptischen Julirevolution in der deutschen Hauptstadt abhielt.
Fahmi Huwaidi zählt zu den renommiertesten Journalisten in Ägypten. Als Kolumnist der arabischen Tageszeitung al-Ahram sollte er über die Konferenz berichten. Doch die kam ihm geradezu belanglos vor im Vergleich zu seinem Erlebnis auf dem Christopher Street Day. „Was wirklich interessant schien, war das, was ich außerhalb des Konferenzsaales sah und hörte“, schrieb Huwaidi kurze Zeit später in seinem Bericht. Eine „Mischung aus lauten Liedern und afrikanischen Rhythmen“ hätten ihn aus seinem Hotel gelockt. Und dort habe er einem erstaunlichen „Ritual“ beigewohnt, einem jährlich stattfindenden Festival jener „widernatürlichen“ Sorte von Männern und Frauen, „die man im Westen Homosexuelle nennt“. So erklärte es ihm ein kundiger Landsmann.
„Diese Art von Menschen hatte ich zuvor noch nie gesehen. Sie sangen und tanzten fast nackt, ihre Gesichter bedeckt mit Schminke. Sie winkten der Menge zu, mal mit der Hand, mal mit einer Flasche Bier.“
Was
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