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Grenzen der Sehnsucht

Grenzen der Sehnsucht

Titel: Grenzen der Sehnsucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel Kraemer
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Huwaidi an diesem Tag erlebte und erfuhr, empfand er als „viel schändlicher als das, was man sich in unseren Dörfern so vorstellt. Die Schwulen sind zu einem ganz gewöhnlichen Phänomen in der Gesellschaft geworden, sie haben starke Institutionen und Organisationen.“ Ganz zu schweigen von dem Bürgermeister, der sich dazu bekenne, „einer von ihnen“ zu sein und der es offensichtlich gutheiße, dass mitten auf der Straße „öffentlicher Geschlechtsverkehr“ stattfinde. „Genau das machen auch die Tiere“, schlussfolgert Huwaidi in der Kolumne seiner Zeitung, „wobei die Tiere immer noch besser“ seien, weil sie die vom Islam geheiligte „natürliche Ordnung der Geschlechter“ nicht durcheinander wirbelten.
    Ob Huwaidis Meinung für die Angehörigen seiner Religion repräsentativ ist, lässt sich schwer ermessen. Tatsächlich wird ihm nachgesagt, dass er ein Vertreter des gemäßigten Islam und sein Kommentar noch relativ zurückhaltend ausgefallen sei.
    Homosexualität und Islam: Das ist ein heikles Thema, um das man sich in der Vergangenheit lieber herumgedrückt hat. Dabei hätte es in Deutschland mit seinen zahlreichen muslimischen Einwanderern längst themati-siert werden können. Doch das Nebeneinander beider Szenen, bislang eher von gegenseitigem Desinteresse bestimmt, funktionierte jahrzehntelang eigentlich ganz reibungslos. Selbst in Bezirken wie Kreuzberg, in dem Angehörige beide Gruppen auf engem Raum zusammen leben. Mit der Oriental-Party Gayhane im alten Punkschuppen SO 36 gibt es sogar eine Veranstaltung, auf der Kreuzberger unterschiedlicher Herkunft und sexueller Orientierung zusammen feiern. So richtig Ärger gab es darum nie im Kiez. Umso heftiger fielen die Reaktionen aus, als das Berliner schwul-lesbische Magazin Sieges säule eines Tages einen Paukenschlag wagte.
    „Türken raus!“ schrie es da plötzlich in fetten Lettern vom Titelbild, im Hintergrund die rot-weiße Flagge mit Sternchen und Halbmond. Gemeint war das allerdings nur als Provokation, denn in einem kleineren Schriftzug weiter unten stand: „Vom Coming-out in zwei Kulturen“. Eine Aufforderung an homosexuelle Türken, mit ihrer Sexualität offen umzugehen. Diese nicht für alle klar erkennbare Entschärfung der Schlagzeile konnte die Woge der Empörung auch nicht mehr aufhalten, die von dem missverständlichen Wortspiel ausgelöst wurde.
    Und so kam es, wie es kommen musste. Der Studentenausschuss der Freien Universität schimpfte über die „Naziparole“ und den angeblichen Rassismus, der sich dahinter verbergen würde. Eine linksfundamentalistische Splittergruppe fühlte sich an die Judenpogrome der NS-Zeit erinnert und warf dem Magazin vor, mit dem Titelbild ein „politisches Hetzplakat“ zu verbreiten, das dem „rassistischen Mob“ Vorschub leiste. Und eine Leserin schrieb, sie sei „entsetzt über den niveaulosen Einfall“.
    Viel Wind um eine Aktion, deren Macher mit faschistischem Gedankengut herzlich wenig am Hut haben. Denn die Siegessäule wollte laut eigenem Bekunden eigentlich nur darauf hinweisen, „dass auch in Berlin das viel gelobte multikulturelle Zusammenleben keineswegs unproblematisch abläuft“. Der Artikel lässt hauptsächlich türkischstämmige Schwule und Lesben zu Wort kommen, die sich in Berlin nirgendwo richtig integriert fühlen. Aber ist das wirklich bei allen so?
    Auf der Suche nach einem Gesprächspartner, der andere Erfahrungen gemacht hat, geriet ich an Ziya C. Er ist geboren in Izmir, wo er bis zu seinem elften Lebensjahr lebte. Er lädt mich zum Tee in seine Wohnung am Savignyplatz ein, mitten im Bezirk Charlottenburg, also jenseits jener türkisch geprägten Quartiere von Neukölln, Wedding oder Kreuzberg, in deren Grundschulen nur noch eine Minderheit der deutschen Sprache mächtig ist.
    Ganz anders der Savignyplatz: Zu Mauerzeiten zog dort einst die eingeschworene Westberliner Schickeria abends um die Häuser. Die Gegend ist immer noch mit edlen Cafés und Restaurants gut versorgt, in jüngster Zeit machen sogar wieder neue Läden auf, aber seit der Eroberung des Ostens sind die Publikumsströme abgeflaut. Trotzdem scheint man hier rund um die Uhr nur schwer einen Parkplatz zu kriegen, ständig schleichen Autos ums Karree, irgendwo hupt und quietscht es immer.
    Ziya bewohnt eine helle, großzügige Dachgeschosswohnung in einem renovierten Altbau. Auf der Terrasse sprießt Dschungeldickicht. Seine Küche öffnet sich zum Wohnraum, die Möbel sind aus Bast und Holz.

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