Grenzen der Sehnsucht
größeren Kick. Manche können nicht mal dann zur Ruhe kommen, wenn sie schon mehrere Male abgespritzt haben. Dann sind sie nur noch kopfgeil und wollen ihr Gegenüber zum Orgasmus bringen. Die Gier nach Sex wird anfänglich nicht als existenzielle Bedrohung erlebt. Aber freundschaftliche Bindungen zerbrechen, Arbeit geht verloren, finanzielle Probleme treten auf; der soziale Abstieg beginnt. Die Sucht beherrscht das ganze Leben. Und manche wollen aus diesem Chaos raus. In solchen Fällen gibt es dann die Möglichkeit, an einer offenen Gesprächsgruppe teilzunehmen, die den kontrollierten Gebrauch bei Alkoholkranken zum Vorbild hat. Und das bedeutet: Vermeiden all jener Formen von Sexualität, die in Wirklichkeit als unbefriedigend empfunden werden, notfalls Abstinenz auf Zeit.“
Dohr legt darauf Wert zu betonen, dass Sexsucht keineswegs ein Problem sei, das allein schwule Männer betreffe. Heterosexuelle Männer seien ebenso davon betroffen, Frauen in geringerem Maße. Manche Sexualwissenschaftler wollen herausgefunden haben, dass sich die traditionelle Sozialisation von Frauen eher bremsend auf das Phänomen auswirke, wohingegen das erlernte männliche Sexualverhalten einen förderlichen Effekt bei Männern zur Folge habe.
Sind demnach schwule Männer häufiger betroffen?
„Das besondere Problem von sexsüchtigen Schwulen ist, dass viel Sex eben zum Bild des schwulen Lebens gehört. Von manchen wird aber geleugnet, dass es Sexsucht überhaupt gibt. Viele junge Schwule werden in einen Mechanismus gedrängt, der süchtiges Verhalten zur Folge haben kann. Sie kommen in die Szene mit der Illusion, dort einen Traumprinzen zu finden. Stattdessen betrachtet man sie als Frischfleisch. Dann geraten sie mehrere Male hintereinander an jemanden, der sie einfach nur als Beutestück missbraucht und dann fallen lässt. Wenn das häufiger geschieht, ist der Frust groß und kann zu psychischen Störungen führen.“
Aus Enttäuschung könne das Verhalten, das sie kennen gelernt haben, unreflektiert übernommen und später an andere weitergegeben werden.
Das hört sich beinahe nach Vampirismus an. Wie in den Romanen von Anne Rice, in denen die fieberhafte Suche nach unschuldigen Opfern im großstädtischen Nachtleben eine ausgeprägt erotische Komponente hat. Wer gebissen und angesaugt wird, verwandelt sich selbst in einen Untoten.
Und tatsächlich: Wer sich an Wochenenden um vier Uhr morgens in schwule Anmachkneipen wie das New Action, Tom ‘s oder die Greifbar verirrt, könnte unmittelbar den Eindruck gewinnen, dass dort wiederauferweckte Mumien und andere lebende Leichen die Macht übernommen haben. Spätestens zu dieser Zeit herrscht dort eine Atmosphäre, die einzig und allein von einer – drücken wir es mal drastisch aus – dumpfen Gier nach Fleisch genährt wird.
Vermehren sich die Vampire unter uns also immer weiter? Und müssen wir uns wappnen, um ihrer wachsen-den Macht Herr zu werden? Oder anders gefragt: Werden exzessives sexuelles Verhalten und Missbrauch in der Szene als Problem überhaupt ernst genommen?
„Eher nein. Ich habe den Eindruck, das Thema ist mit einem Tabu belegt. Die ausschweifende Sexualität und alles, was mit ihr zu tun hat, steht grundsätzlich für eine Freiheit, die sich die Schwulen mühsam erkämpfen mussten. Und in der Tat erleben viele irgendwann eine Phase, in denen sie maßlosen Sex als etwas Tolles empfinden, als Befreiung aus einem strengen Moralkodex, der sie früher eingeengt hat. Das Freiheitsgefühl ist letztlich aber etwas Veränderliches, darum hält die Euphorie nur eine begrenzte Zeit an. Später kann man nicht mehr aufhören, weil man glaubt, das Hochgefühl komme wieder“, sagt Dohr. Wie bei jeder Sucht.
Dabei spielt das Ausreizen sexueller Grenzen in der schwulen Subkultur eine große Rolle. Schließlich ist es noch nicht lange her, dass jegliches Schamempfinden von schwuler – und weiblicher – Sexualität zur Unterdrückung instrumentalisiert wurde. Ist es da nicht folgerichtig, wenn man nun gleich alle Schamgrenzen aus der Welt schafft?
Schwuler Sex, das heißt in aller Regel: so direkt und unverblümt und häufig wie eben möglich. Schon das flüchtige Blättern in Szenemagazinen lässt erahnen, dass Körperkult und die Beschäftigung mit immer ausgefeilteren, immer spezialisierteren Sexualpraktiken und Fetischen an Bedeutung zunehmen. Wer – wie Siegfried – nicht damit zurechtkommt, nicht mehr mithalten kann oder von vornherein nicht daran teilhaben
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