Grenzen der Sehnsucht
Tänzeln durch den Saal plötzlich inne und legt unvermittelt die Brüste von hinten auf die Glatze eines Herren im Publikum, der offenbar ein dankbares Opfer für diesen Übergriff abgibt. Vielleicht ist er der Lohnbuchhalter der Firma, der als besonders schüchtern und unscheinbar gilt? Jedenfalls gerät er in Verlegenheit, das Blut schießt ihm in den Kopf, die Augen weiten sich. Doch gleichwohl scheint er die Aufmerksamkeit seiner Kollegen zu genießen. Bei ihnen kommt Miss Tinkerbells Busenattentat auf die graue Firmenmaus jedenfalls gut an, obwohl es nicht gerade der neueste Bühnengag ist. Man klopft sich hysterisch auf die Schenkel; die Stimmung unter den rheinischen Frohnaturen kocht. So ausgelassen geht es in der Belegschaft vermutlich nur selten zu. Männer, die sich als Frauen verkleiden, sind eben immer für Lacher gut. Das Travestie-Business brummt in Köln wie in kaum einer anderen Stadt. Es ist genauso wenig wegzudenken wie der Dom.
„Mit dem Publikum spiele ich gern. Ich bin nicht unnahbar. Am liebsten erzähl ich von mir selbst. Geschichten, in denen ich mit meiner Erscheinung kokettiere, mit meinen 198 Zentimetern Körpergröße und meinem Kampfgewicht von 108 Kilo. Da erzähl ich dann von mir als Walross am Strand oder so. Wenn ich meine Waden entblöße, ist das immer der Hit.“ Er krempelt seine Hose hoch und zeigt sie mir: Sie sind außergewöhnlich muskulös.
Da die allermeisten Geschäfte nur selten Damenschuhe in der Größe von 48½ vorrätig haben, braucht Jörg Spezialanfertigungen. „Die besorge ich mir in München“, sagt er mit gedehntem Augenaufschlag und hochgerunzelter Stirn, „und zwar da, wo sich internationale Bühnenstars ihre Schuhe machen lassen.“ Er schaut mich an und legt eine effektvolle halbe Sekunde lang Pause ein.
In meinem Kopf ertönt ein stilles Echo: Internationale Bühnenstars!
Dann erzählt er mir, dass seine Agentur dieselbe ist, die auch Showgrößen wie Michelle, Nicole und die Weather Girls unter Vertrag hat.
Und wieder echot es still: Die Weather Girls!
Aufgetreten ist er bislang vor allem in Köln und Umgebung, aber auch in Frankfurt und Wuppertal wird er von Kegel- und Karnevalsvereinen, auf Gartenpartys und Wohnungseinweihungen eingeladen. In schwulen Bars hingegen tritt er nur selten auf.
„Das schwule Publikum ist so verwöhnt“, sagt Jörg und winkt ab. „Dort kennt man Travestie aus jeder Kneipe. Es wird zwischendurch gequasselt und gequatscht, das macht einfach keinen Spaß. Das normale Publikum dagegen ist schneller zu begeistern.“
Jörg serviert Domspekulatius. Eine Spezialität, die in Köln sehr beliebt zu sein scheint.
Würde er sich eigentlich als Drag Queen bezeichnen?
„Nein, um Gottes Willen!“ Jörg begibt sich in Abwehrhaltung. „Drag Queens präsentieren sich selbst. Die treten nicht auf Bühnen auf, um jemanden zu imitieren. Ich würde nicht privat im Fummel ausgehen. Ich bin ein Mann, und das will ich auch bleiben. Ich bin auch überhaupt nicht skurril oder so. Wenn ich ein paar Tage nicht auftrete, lasse ich mir einen Drei-Tage-Bart stehen. Meine Freunde sagen immer: Auf der Bühne siehst du aus wie jemand ganz anderes. So geht es mir auch, wenn ich mich selbst auf diesen Videos betrachte. Ich sehe mich als eine andere Person. Für mich ist das einfach ein Hobby, wie für andere die Modelleisenbahn.“
Ein ungewöhnlich aufwändiges Hobby. Wie ist er eigentlich dazu gekommen?
Jörg holt tief Luft.
„Eigentlich hatte ich mit Travestie gar nichts am Hut. Ich hätte mir nicht mal vorstellen können, dass ich jemals damit zu tun haben würde. Eines Tages überredeten mich dann zwei Profis aus meinem Bekanntenkreis dazu, bei einer Hochzeit im Trio aufzutreten. Eigentlich sollte das eine Ausnahme sein. Damals war mein Bruder sehr krank, und ich erinnere mich, wie er noch zu mir gesagt hat: .Mensch, Jörg, du wirst doch nicht etwa zur Fummeltante werden!’ Wir beide standen uns sehr nah.“
Dann starb sein Bruder, der drei Jahre jünger war als er. Schnell und unerwartet.
Jörg steht auf, kramt ein Album hervor, um mir Fotos zu zeigen. Ein sehr hübscher Mann, der Bruder, der in der Szene mit Jörg öfter mal um die Häuser zog. Werkzeugmacher war er von Beruf.
„Das passierte damals alles Schlag auf Schlag: der zufällige Auftritt im Fummel, der Todesfall, die Verzweiflung. Und dann waren die Leute im Nachhall der Show so begeistert, dass sie mich ermutigten, damit weiterzumachen. Was ich dann auch getan habe,
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