Grenzen der Sehnsucht
um mich abzulenken. Es gab mir das Gefühl, aus mir selbst herauszutreten. Die Trauer war weg!“
Jörg hält einen Moment inne und schüttelt den Kopf – als wäre er selbst immer noch erstaunt darüber, dass das menschliche Hirn mit all seinen Widersprüchen so funktionieren kann.
„Dann kam eine Phase, in der ich an jedem Wochenende Show, Show, Show gemacht habe. Danach fuhr ich jedes Mal an das Grab meines Bruders und dachte über diese ganze Situation nach. Meine Freunde habe ich kaum ertragen. Außerdem habe ich viel abgenommen zu der Zeit. Bevor er starb, wog ich 147 Kilo. Seither musste ich meine Kostüme zweimal enger nähen lassen.“
Die Anerkennung, die er nach den Shows erntete, bewog ihn letztlich dazu, die Travestie weiterzupflegen und von Auftritt zu Auftritt zu tingeln. In der Rolle von Gitte, Mireille Mathieu, Hilde Knef – der Fundus ist unerschöpflich.
„Die Leute sagen zu mir: ,Man merkt, dass du mit Leib und Seele dabei bist. Das Leben ist ernst genug, mit dir vergisst man das alles!’„
Bevor ich mich von Jörg verabschiede, hat er noch eine wichtige Sache mit mir zu klären. Er hebt entschlossen den Zeigefinger; seine Stimme bekommt einen strengen Ton. Denn mit Medien hat er nicht so gute Erfahrungen gesammelt.
„Ich möchte auf jeden Fall vorab einen Abdruck des Textes vorgelegt bekommen! Einmal stand in einem Artikel über mich ,Palettenkleid’ statt .Paillettenkleid’, und noch mehr so Zeugs. Da baut man sich drei Jahre lang was auf – und dann so was!“
Selbsternannte Homo-Hauptstadt:
Kuschelghetto mit Anschluss an die große, weite Welt
Wenige Stunden später regnet es in Strömen; das Thermometer zeigt ungefähr sieben Grad. Das Café Barflo am Friesenwall ist an diesem Nachmittag voll bis auf den letzten Platz.
Am Nebentisch sitzen zwei intensivgebräunte Schwule mit einem Jack Russell Terrier. Sie tragen Strickpullis, beide mit demselben Muster. Ebenso das Hündchen, das hier mit seinem Überzieher nicht so sehr wie des Menschen bester Freund, sondern eher wie ein schickes Accessoire zum Partnerlook daherkommt. Corporate Design wäre vielleicht ein passender Begriff für das exzentrische Styling der drei. Keine Frage, hier handelt es sich um ein schwules Gesamtkunstwerk.
„Seine Rasse ist an unsere klimatischen Verhältnisse nicht gewöhnt, der bekommt kein Winterfell“, erklärt mir eines der beiden Herrchen, „und wenn ich den zu dieser Jahreszeit nicht zusätzlich wärme, weigert er sich strikt, vor die Tür zu gehen. Stimmt’s, Django?“
Obwohl er gerade von links und rechts gekrault wird, macht Django keinen sehr glücklichen Eindruck. Wahrscheinlich liegt es an der Discomusik, die aus den Boxen nur so dröhnt. In diesem Moment brauchte er wohl eher Ohrschutzstöpsel als einen Wollüberzieher.
„So many men, so little time“, schmettert es im Refrain.
Falls Django intelligent ist, denkt er jetzt vielleicht: ,Die spinnen, diese Homos. Wieso dröhnen die sich immer mit denselben Songs zu?’
Auch für Menschen ist das hier nicht unbedingt ein entspannter Ort, jedenfalls nicht für ein Gespräch, zumal einem alle paar Minuten jemand über die Füße stolpert, auf der Suche nach einem freien Platz. Aber es ist eben Sonntag, und schräg gegenüber im Café Era scheint der Andrang nicht geringer zu sein.
Hier in der Nähe des Rudolfplatzes befindet sich das schwule Epizentrum Kölns, mitten in der Haupteinkaufszone der Stadt, die bislang jedoch noch nicht ausschließlich schwulen Konsumenten vorbehalten ist. Es dürfte allerdings nur eine Frage der Zeit sein, bis jemand zumindest auf die Idee kommt, in der selbsternannten Homo-Hauptstadt ein paar Einkaufstage für Schwule einzuführen. Damit man auch mal beim Shopping unter sich bleiben kann. Das Bedürfnis nach Abgrenzung scheint jedenfalls größer zu sein als anderswo. Die Bezeichnung Ghetto wird hier nicht als anstößig empfunden, ganz im Gegenteil. Man argumentiert vielmehr: Ghetto – das hat doch irgendwie auch etwas Gemütliches und Überschaubares. Kneipen und Clubs, in denen Homos und Heteros gemeinsam ihr Bier trinken, gelten hingegen als suspekt.
Zum Beispiel bei Djangos Herrchen, mit denen ich mich inzwischen auf einen Smalltalk eingelassen habe.
„Bei uns gibt’s ja seit neuestem so einen Ableger vom Berliner Kit Kat Club “,sagt einer von ihnen und wirft seinem Freund einen vielsagenden Blick zu. „Da sollen auch Frauen verkehren.“ Dieser verzieht angewidert das Gesicht und
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