Grenzen der Sehnsucht
Miss Tinkerbell.“
Miss Tinkerbell: Wo hat man den Namen schon mal gehört? Ach ja, so nennt sich die grazile Zwergenfee aus Walt Disneys Peter-Pan -Film, die beim Fliegen immer eine glitzernde Wolke mit Sternenstaub hinter sich lässt. Man kann sich an sie recht gut erinnern, obwohl sie eigentlich nur eine Nebenrolle spielt.
Miss Tinkerbell heißt im trivialen Alltag eigentlich Jörg. Unter der Woche arbeitet er in einer Immobilienfirma. Als er uns an diesem Sonntagvormittag die Tür öffnet, strahlt er über das ganze Gesicht. Eine feingliedrige Märchenelfe stellt man sich anders vor. Jörg ist groß, stämmig, hat eine sanfte Männerstimme und trägt Jogginghose und Pulli. Auf den ersten Blick wirkt der 41-jährige recht maskulin. Aus der Wohnung dringt der Geruch von Räucherstäb-chen. Ich werde herzlich mit Bussi begrüßt, obwohl wir uns das erste Mal sehen. Dass ich der Freund eines Freundes bin, reicht für einen gewissen Vertrauensvorschuss aus.
Im Flur stehen Antiquitäten, an der Wand hängen Porzellanengel und eine Kuckucksuhr, an der Decke Kristall-Lüster. Wie in Großmutters guter Stube.
„Bei der Erstbesichtigung führe ich meine Besucher erst mal auf die Toilette“, sagt Jörg und öffnet mit großer Geste die Tür zum WC. Dort fällt mir als Erstes ein lebensgroßer Starschnitt von Marilyn Monroe ins Auge. Gleich daneben hängt noch ein zweiter, und zwar von Miss Tinkerbell höchstselbst. Natürlich im Fummel, als eine Parodie auf Marilyn Monroe, oder genauer gesagt: als die Monroe im Seniorenalter, wie Jörg mir erklärt. Das Make-up auf der lebensgroßen Abbildung ist zentimeterdick aufgetragen. Wie das nun mal so sein muss bei einer Parodie.
Auf einem Regal, hoch über Waschbecken und Toilettenschüssel, thront ein Dutzend Perücken auf Styroporköpfen. Ein paar davon sind so hoch auftoupiert, dass selbst Marge Simpson vor Neid grün im Gesicht anlaufen würde.
Keine Frage, so viele extravagante Frisurensurrogate, und vor allem, so ein ungewöhnliches Klo hat nicht jeder. Wie mag da erst der Rest der Wohnung aussehen?
Jörg lacht. Er scheint sich diebisch darüber zu freuen, mal wieder jemanden sprachlos gemacht zu haben. Ohnehin hat er die ganze Zeit über eine freundliche und gutmütige Miene aufgelegt. „Meine Freunde sagen immer: ,Mensch, bei dir zu Hause ist ja rappelvoll bis in den letzten Winkel. ‘Aber alle finden es gemütlich hier.“
Tatsächlich beherbergen die Räume ein buntes Sammelsurium an Souvenirs und Devotionalien. Es gibt kaum einen Quadratzentimeter an der Wand, an dem nicht ein Bild oder irgendwelcher Nippes hängt, oder eine Ecke, aus der nicht etwas hervorragt. Am auffälligsten sind die vielen Schaufensterpuppen, die auf die zwei Zimmer und den Flur verteilt sind. Ihnen hat Jörg Kostüme angezogen. Eine ist zum Beispiel in ein altes französisches Hochzeitskleid gehüllt. Im Schlafzimmer ist eine altarähnliche Ahnengalerie aufgebaut, gleich gegenüber von seinem Bett. Mit gerahmten Mädchenporträts von seiner Großmutter und der Mama. Ein Kreuz hängt an der Wand.
Jörg öffnet den Kleiderschrank, wo er seine kostbarsten Schätze aufbewahrt. Für die Travestie, seine große Leidenschaft, ist er nämlich bereit, eine Menge Geld zu investieren: in Kostüme und Accessoires.
So hat ihn ein voluminöser Federkragen, der sich in einem Radius von über einem Meter auffächert, über eineinhalb Tausend Euro gekostet, und für ein Collier hat er mehr als tausend Euro hingeblättert. Ganz zu schweigen von den vielen Kostümen.
Wie viele sind es eigentlich?
„O Gott“, stöhnt er auf und überlegt kurz. „Es müssen so 30 bis 40 sein.“
Jörg kramt aus einer Schublade einen Prospekt, in dem man ihn als Zarah Leander sehen kann, das Kostüm üppig mit Perlen bestückt. Oder in einem Tupfenkleid als Connie Francis. „Mein Markenzeichen sind die aufwändigen Perücken, die aus mehreren Einzelperücken angefertigt sind. Und natürlich die zwölf Zentimeter hohen Pumps. Da komm ich dann auf eine Höhe von bis zu zwei Meter fünfzig.“
Im Wohnzimmer legt er ein Video ein. Es zeigt ihn bei einem Auftritt auf einer Betriebsfeier. Alles in Vollplayback. Zum Beispiel in der Rolle der alten Kölner Schlagernudel Trude Herr. „Weil ich so sexy bin“, trällert es aus den Lautsprechern, und Jörg alias Miss Tinkerbell lässt die Lippen zur Synchronisation vibrieren, klimpert mit den künstlichen Wimpern, macht ausholende Bewegungen mit den Armen, hält beim
Weitere Kostenlose Bücher