Grenzen der Sehnsucht
Köln, wo er seine neuen Freiheiten immer noch in vollen Zügen genießt.
„Ich mag die Lederszene. Irgendwann habe ich gemerkt, dass das genau das Richtige für mich ist. Ich brauche eine harte Gangart. Mit den Typen, die im Gloria verkehren, kann ich nichts anfangen. Die ganzen Travestieshows sind überhaupt nicht mein Ding.“
Shaker trägt ein eng anliegendes Hemd. Die oberen Knöpfe sind geöffnet, daraus quillt üppig Brusthaar. Schon aus einer Entfernung von hundert Metern würde man auf der Stelle erkennen, dass er regelmäßig in einem Sportstudio trainiert.
„Du musst dich nach dem Markt richten“, sagt er, „Muskeln sind hier in Köln sehr beliebt. Mir selbst bedeutet das nicht so viel, auch wenn es optisch was hermacht. Ich finde wichtig, dass die Chemie stimmt. Und das zeigt sich beim Küssen. Das entscheidet, ob der Sex gut ist oder nicht.“
Doch so wohl sich Shaker auch in Köln fühlt – eine Sache ist ihm fremd geblieben: „Hier in Deutschland verlassen viele schon früh ihr Elternhaus, und von da an spielt die Familie keine wichtige Rolle mehr. Manchmal frag ich mich, warum das so ist. Warum muss man sich mit 18 von seinen Eltern trennen? Ich verstehe das nicht, ich vermisse meine Familie. Meine Mutter und mein Vater wohnen inzwischen wieder in Bagdad. Irgendwann will auch ich zurückkehren, ich finde es nicht richtig, wenn meine Eltern alt sind und ich immer noch hier bin.“
Würde er dafür auf den Standard des schwulen Lebens, an den er sich hier gewöhnt hat, ohne weiteres verzichten?
Shaker blickt etwas ratlos drein und zuckt mit den Achseln.
„Heute weiß ich, dass man auch im Irak schwule Kontakte knüpfen kann. Das haben mir Landsleute erzählt, die ich hier getroffen habe. Trotzdem mach ich mir keine Hoffnung, dass eine Demokratie im Irak die große Freiheit für Schwule bringen wird. Deswegen möchte ich noch eine Weile hier bleiben, mich ausleben, bis ich in einem Alter bin, in dem andere Dinge wichtiger werden. Wenn man zwanzig ist, braucht man noch jeden Tag Sex, aber später ändert sich die Einstellung, und dann wird Lesen oder Musikhören wichtiger. Ich denke, dass ich mit 35 in den Irak zurückgehe. Meine Eltern leben dort in einer Wohnung mit sechshundert Quadratmetern, ich habe dort ein eigenes Zimmer. In Köln lebe ich auf 28 Quadratmetern. Jetzt, da Hussein weg ist, hoffe ich, dass der Irak so aufgebaut wird wie Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg.“
Könnte er denn auch mit einem Liebhaber in das Haus seiner Familie ziehen?
„Nein, eine gemeinsame Adresse mit einem Freund – das würde auf keinen Fall gehen. Ich kann dort zwar tun und lassen, was ich will, aber darüber sprechen kann ich nicht. Einen Liebhaber könnte ich meinen Eltern nicht antun, das ist unmöglich.“
Shaker dreht den Kopf und schaut suchend in die Menge im Barflo. Sein Liebhaber aus Lille hatte sich während unseres Gesprächs gelangweilt – kein Wunder, denn er versteht kein deutsch –, und darum beschlossen, eine Runde im Quartier zu drehen. Bis jetzt ist er nicht wieder aufgetaucht.
„Ich hoffe, er hat inzwischen nicht einen anderen kennen gelernt“, sagt Shaker. „Ach was“, entgegne ich, „in so kurzer Zeit bestimmt nicht.“ „Ich bin mir nicht sicher“, zweifelt Shaker, dreht seinen Kopf wieder zu mir und zeigt mit dem Finger auf sich selbst. „Bei mir geht das manchmal so schnell.“
Mütter fragen, Schwule antworten: Rosa Revolution bei RTL
Nur ein paar Kilometer vor den Toren Kölns liegt die kleine Stadt Hürth, eingebettet in eine Landschaft zwischen Wasserburgen an Rhein und Erft. Doch die ländliche Idylle täuscht: Mit über 30 TV-Studios verdichtet sich hier europaweit einer der größten Produktions-standorte für das private Fernsehen.
Zu Beginn der neunziger Jahre verhalfen hier RTL -Moderatoren wie Ilona Christen und Hans Meiser einer speziellen Form der Fernsehunterhaltung zum Durchbruch: der „Affekt-Talkshow“, wie sie von Soziologen genannt wird. Dort war nicht die Meinung von Experten und Prominenten gefragt, sondern – ganz demokratisch und unelitär – die Stimme des einfachen Volkes.
Stimmung zu machen war allerdings eher das Ziel der Macher, als einem Problem tatsächlich ein Stück weit auf den Grund zu gehen. Nur wenn regelmäßig Tränen flössen oder die Fetzen flogen, galt das als Garant für eine gute Zuschauerquote.
Es ging meist um Alltägliches, das fast jeden in irgendeiner Weise betreffen konnte, um zerrüttete
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