Grenzen der Sehnsucht
Verhältnisse mit Schwiegertöchtern, Großvätern, Müttern, Kollegen und Nachbarn. Doch gleichzeitig stand auch das Skurrile hoch im Kurs, wie etwa Menschen, die sich aufgrund einer Eigenart jenseits des Mainstream bewegten. Am besten verkauften sich Themen, die sich um Sex drehten. Homosexualität war ein Thema, das von allem etwas in sich vereinte und die Quote nach oben trieb – nachdem gleichgeschlechtliche Liebe jahrzehntelang tabuisiert worden war.
Dadurch machte sich der Kölner Sender RTL zum Vorkämpfer einer schwulen Revolution im deutschen Privatfernsehen. Eine Zeit lang konnte man fast im Wochenrhythmus Schwule in Talkshows sehen. Das war eine Weile neu und originell.
Wann dürfen Homos endlich heiraten?
So engagiert lautete der Titel einer Sendung von Ilona Christen, die damit als eine der ersten vorpreschte.
Allerdings hieß es bei ihr auch: Ihr Homos geht mir auf die Nerven!
Und ein andermal: Ich will nicht länger schwul sein!
Derweil war ihr Kollege Hans Meiser mit seinen Gästen schon ein Stück weiter: Bekehrt! Ich war einmal schwul!
Und ein halbes Jahr später: Ich bin schwul und liebe eine Frau!
RTL -Kollegin Sabrina nannte eine ihrer Sendungen: Du und deine Schwulen, ihr widert mich an! Schließlich lud sie ein zu einer Show unter dem Motto Mütter fragen – Schwule antworten!
Die Konkurrenzsender ließen sich nicht lumpen und zogen bald nach.
Unser Pfarrer ist schwul – Gott laß ihm seine Liebe! flehte man bei Jörg Pilawa.
Polemischer ging es sein Kollege Andreas Türck an, zumindest im Titel seiner Sendungen. O Gott! Schwule und Technik!
Oder: Schwuler Mann, ich kann dich nicht verstehen!
Ausrufezeichen, Ausrufezeichen, Ausrufezeichen.
Auch bei Arabella Kiesbauer, Sonja, Vera am Mittag, Peter Imhof und Bärbel Schäfer traten Schwule plötzlich massenhaft auf. Es kam zu einer geradezu absurd anmutenden Inflation schwuler Themen.
Mein Vater ist jetzt schwul!
Ich bin mir sicher: Dein Freund ist schwul!
Du musst dich entscheiden: Dein schwuler Freund oder ich!
Schwul und doch ein ganzer Kerl!
Eine Liste, die sich beliebig fortsetzen ließe. Kaum eine homoerotische Facette war zu abwegig, um nicht doch ins Scheinwerferlicht gezerrt zu werden. Teilnehmer wurden unter anderem an Treffpunkten der schwulen Subkultur gesucht. Dort hingen regelmäßig Aufrufe von TV-Produk-tionsgesellschaften an Türen und Pinwänden, die jeweiligen Themen waren im Vorfeld bereits abgesteckt. Wer sich dazu bereit erklärte, sein Intimleben vor laufender Kamera zu entblößen, bekam dafür ein kleines Taschen-geld.
Doch nach dem Jahr 2000 war Homosexualität als Quotenbringer weitgehend erschöpft, medial ausgezehrt, verbraten. So erinnert sich jedenfalls ein Mitarbeiter der Hürther Studios: „Das Publikum war mittlerweile überreizt und der schwulen Dauerpräsenz überdrüssig.“
Immerhin etwas blieb von dem Spektakel übrig: Schwulsein zählte von nun an nicht mehr zu den Tabus, zumindest nicht im Fernsehen. Und das war ein Fortschritt. Jedenfalls für diejenigen, die in ihrer persönlichen Realität nur das akzeptieren, was auf der Mattscheibe zu sehen ist.
Wie aus dem Nichts tauchten Schwule schließlich in Serien wie Marienhof oder Lindenstraße auf. Allerdings galten für ihre Integration in der TV-Soap-Dramaturgie gewisse Spielregeln: Sie mussten sich nett, harmlos und unbedingt ein bisschen schräg geben, durften gerne unbekümmert und ohne jede Verantwortung sein, jedoch keinesfalls sexuell begehrenswert. An dem Klischee änderte sich im Lauf der Jahre kaum was, und so wundert es eigentlich nicht, dass die meisten Schwulen mit der Darstellung von Homosexualität im Fernsehen immer noch unzufrieden sind.
Zu diesem Resultat kommt die erste Umfrage zum Thema, bei der mehr als sechstausend Schwule und Lesben übers Internet befragt wurden. Veröffentlicht wurde sie Anfang 2004 vom Kölner Unternehmensberater Michael Stuber. Demnach sind gut 90 Prozent der Ansicht, dass Homosexualität im deutschen Fernsehen eine zu geringe Rolle spielt. Fast ebenso viele meinen, dass die Darstellung von Schwulen eher verzerrt ist und nicht der Realität entspricht. Dabei wünschen sich fast alle, dass das Mainstream-Fernsehen ihre Lebenswelt besser reflektiert – und nicht etwa ein Spartenkanal wie Fink-TV in Frankreich.
„Es hat mich überrascht, dass das Votum so eindeutig ausfällt“, sagt der korrekt in Schlips und Anzug gehüllte Stuber zu dem Ergebnis. „Erstaunlich fand ich auch, dass die
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