Grenzen der Sehnsucht
anziehen. Wir müssen dich neu stylen!“
Dazu gehörte zum Beispiel die 501, die unangefochtene Kultjeans der Achtziger. Das war die mit den Knöpfen anstelle des Reißverschlusses, von denen einer stets offen bleiben musste. So lauteten die Bedingungen – nicht etwa nur in Frankfurt, sondern überall, wo es eine schwule Szene gab. Also praktisch in der ganzen westlichen Hemisphäre.
Was die globalen Trends der schwulen Subkultur betraf, war Frankfurt jedoch stets auf dem neuesten Stand, und deswegen herrschte hier auch ein größerer Anpassungs-druck als anderswo. Ein Umstand, der vor allem dem Großflughafen und der überwältigenden Anzahl schwuler Flugbegleiter zu verdanken ist, in der Szene Saftschubse, Trolley Dolly oder auch Queen of Cups genannt. Ein Beruf, der für ungebundene Schwule schon immer interessant war, der sie den Duft der großen weiten Welt schnuppern und gleichzeitig zu Hause im schwulen Bekanntenkreis den Ton angeben ließ. Was Trends betraf, waren sie es, die Frankfurt zum Ruf der internationalsten Stadt Deutschlands verhalfen.
Für Mika war die schwule Trendwelt jedenfalls der denkbar größte Gegensatz zu dem, was er aus Ungedanken kannte. Das erschien ihm nicht nur neu und spannend; es war außerdem der einzige gangbare Weg, um sein Schwulsein mit einem gewissen Stolz akzeptieren zu können.
Und so schlüpfte er eine Zeit lang abwechselnd in die eine, dann wieder in die andere Rolle. Heute war er der Hetero in Ungedanken, morgen der Homo von Welt.
Lange hielt er das Spiel allerdings nicht durch, jedenfalls nicht, ohne dass sein Verstand allmählich Schaden nahm.
„Irgendwann hab ich an mir schizophrene Züge festgestellt“, sagt Mika. „Mir kam es so vor, als wäre ich in einem Kino, in dem zwei Filme laufen, und ich bin ein Zuschauer meines eigenen Lebens.“
Aus seiner Familie kam kein Rückhalt.
„Mein Vater war ein hoher Beamter, der fürchtete um seinen Ruf. ‚Mach, was du willst’, hat er mir gesagt, ,aber nicht hier im Dorf!’“
Da kam für ihn nur noch eine Lösung in Frage: Weg aus Ungedanken.
Heute hat er alle Seile in sein ehemaliges Heimatdorf gekappt, zumindest mental.
„Wenn mein Vater mir erzählt, wer von meinen früheren Freunden und Bekannten wieder geheiratet hat, dann lässt mich das kalt. Einmal hab ich einen alten Kumpel getroffen, das war früher so eine Schnitte, und heute hat er fünfzig Kilo Übergewicht. Da hab ich richtig Schadenfreude verspürt.“
Mika grinst. Er sitzt mir gegenüber an einem großen Tisch im Fräggels, einem gutbürgerlichen Restaurant mit Holzvertäfelungen an der Wand, in der Nähe der Konstabler Wache, wo sich die schwulen Kneipen Frankfurts konzentrieren. Es ist unsere erste Begegnung; ein Freund hatte ihn mir als Gesprächspartner vermittelt.
In einer Nische steht eine dieser industriell gefertigten Gipsabdrücke von Michelangelos David. Noch so ein schwules Idealbild, allerdings eines, das etwas angestaubt ist und so gar nicht zum Zeitgeist der vergangenen Jahre passt: der introvertierte, nachdenkliche, feingliedrige Jüngling.
Mika ist von geradezu gegensätzlicher Gestalt. 1,90 groß, bestimmt 90 Kilo schwer, breite Schultern, ein richtiger Brecher eben. Mit seinen Muskeln braucht er nicht zu kokettieren, und darum lässt er sie auch nicht unter einem passgenauen Hemd hervortreten, sondern trägt einen Pulli drüber. Trotzdem ahnt man sofort, was sich drunter verbirgt.
„Wenn ich nicht schwul wäre, hätte ich jetzt eine Frau, drei Kinder, ein Einfamilienhaus und wäre fertig mit der Welt. Vielleicht einmal im Jahr nach Mallorca, das wäre es.“
Empfindet er das schwule Leben als glamouröser und weltoffener?
„Auf jeden Fall“, sagt Mika. „Die Nächte durchtanzen, Drogen nehmen – als Hetero könnte man das mit 38 nicht mehr machen. Aber inzwischen bin ich nicht mehr so naiv wie damals, als ich in die Szene kam. Da ist vieles nur Fassade, und dahinter wird auch nur mit Wasser gekocht. Jetzt bin ich älter – und ruhiger geworden. Die Szene ist nicht mehr das einzige, was mich reizt.“
Ich lass mir noch ein Gespritztes bringen, also Äppelwoi verdünnt mit Mineralwasser, eine der regionalen Spezialitäten, die in Frankfurt jede Kneipe auf der Karte stehen hat.
Als der Kellner an den Tisch kommt, stellt ihn mir Mika vor und sagt: „Das ist übrigens mein Freund.“
Aha.
Gibt es da vielleicht einen Zusammenhang zwischen dem ruhiger Gewordensein und der Beziehungskiste? Oder anders gefragt: Hat
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