Grenzen der Sehnsucht
er jetzt die Suche nach Männern für Sex aufgegeben?
„Ich bin ein Mann“, antwortet er wie aus der Pistole geschossen, die Augen weit geöffnet und Stirnfalten nach oben gezogen, so als hätte ich gerade eine völlig abwegige Idee zum Besten gegeben. „Wir sind doch alle auf der Pirsch. Mein Freund und ich haben eine offene Beziehung. Sex mit anderen ist in Ordnung, aber es muss verhältnismäßig sein.“
‚Verhältnismäßig’ ist etwas Relatives. Was heißt das für ihn genau?
„Etwa einmal pro Woche. Flirten mit anderen ist erlaubt, wenn wir zusammen ausgehen, nie jedoch Adressen oder Telefonnummern austauschen.“
Die mehr als sieben Leben des Herbert Rusche:
Bioladenbesitzer, Bundestagsabgeordneter, Sex-Shop-
Mitarbeiter ...
Ein Nahtod-Erlebnis. Herbert Rusche wog damals vierzig Kilo weniger als heute. Er lag im Krankenhaus, zusammengekauert in einem Bett, hatte Fieberschübe. Alles vollgeschwitzt. Kurz zuvor schien ihm sein Zustand noch unerträglich, jetzt war er auf einmal total happy.
„Ich spürte einen süßlichen Geschmack im Hals, der sich von da aus über den ganzen Körper ausbreitete“, erzählt er. „Das war ein unglaubliches Glücksgefühl.“
Später haben ihm die Ärzte erklärt, dass das die Wirkung von Endorphinen sei, die der Körper selbst zu produzieren beginnt, wenn dieser sich kurz vor dem Tod wähnt.
Eine Grenzerfahrung, von der man nur in Ausnahmefällen wieder ins Reich der Lebenden zurückkehrt. Medizinisch gesehen ein Glücksfall, und aus diesem Blickwinkel ist Rusche eben einfach noch mal davon gekommen. Weniger nüchtern sieht man das, wenn man es selbst durchlebt hat. Wie ein schicksalhaftes Geschenk, wie etwas, das einen das Leben mit einer größeren Intensität wahrnehmen lässt.
Das Erlebnis hatte er Mitte der neunziger Jahre, ein Jahr, bevor eine neue Generation von Aids-Medikamenten auf den Markt kam. Es sollte sich herausstellen, dass eine Kombination von Tabletten erstmals das Virus einigermaßen in den Griff kriegen würde. Nicht bei allen schlug die Therapie an, aber bei den meisten.
So auch bei ihm.
„Seither habe ich weniger Angst vor Tod und Krankheit“, sagt der heute knapp über 50-Jährige, der mir sehr lebendig gegenüber sitzt und in seiner Fülle einen äußerst robusten Eindruck macht. „Nach diesem Erlebnis fühlte ich mich wie ein neuer Mensch.“
Es konnte beginnen, das zweite Leben des Herbert Rusche.
Doch, halt: Was heißt hier eigentlich das „zweite Leben“?
Eine manchmal allzu leichtfertig geäußerte Metapher, die sich auf einen plötzlichen Einschnitt in einer Biografie bezieht, auf eine Wendung, die eine drastische Richtungsänderung zur Folge hat.
Manche sagen von sich, dass sie mit dem Wechsel des Berufes ein ganz neues, ein zweites Leben begonnen haben. Beruf und Berufung, das gehörte einmal untrennbar zusammen. Für viele gilt das auch noch heute.
So gesehen hätte Herbert Rusche, dieser zähe Kämpfer, zum Zeitpunkt seines klinischen Beinah-Todes schon fünf, sechs, ach, noch viel mehr Leben hinter sich gehabt. Mit was er nicht alles schon seine Brötchen verdient hat: Er war Krankenpfleger in einer psychiatrischen Anstalt, Rangierarbeiter bei der Bundesbahn und Gründer des ersten Offenbacher Bioladens Manna. Nur mal so zum Beispiel.
„Man musste in den siebziger Jahren schauen, wo man blieb, weil man als offen Schwuler noch ständig rausflog.“ So erklärt er mir seine beachtliche Bandbreite an beruflicher Lebenserfahrung. Schwulsein als Triebfeder für Flexibilität. Oder besser: Homophobie, denn die war ja der eigentliche Grund für das Bäumchen-Wechsle-Dich-Spiel, nicht sein Schwulsein.
Zumindest einmal hat es ihm genützt. Man kann auch sagen, es war eine Voraussetzung dafür: für seinen Job als Bundestagsabgeordneter. Der ist ihm fast schon zugeflogen; verbissen kämpfen musste er darum nicht.
Es war zu Beginn der achtziger Jahre, als die Gründungsphase der Grünen gerade mal zwei Jahre zurücklag und die frisch gebackene Partei schon den Sprung in den hessischen Landtag geschafft hatte. Rusche war Landesgeschäftsführer in Hessen, und zuvor hatte er sich in Anti-Atomkraft-Initiativen und als Homo-Aktivist einen Namen gemacht.
Damit war er geradezu prädestiniert für ein Bundestagsmandat – als buntscheckiger Repräsentant jener Partei, die damals in erster Linie ein Sammelbecken der unterschiedlichsten Politbewegungen war.
Als es die Grünen schließlich erstmals schafften, in den Bundestag
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