Grenzen der Sehnsucht
in sich funktionierte. Mit einem abgespaltenen Liebesleben. Mein Lebensmodell hat die nicht erschüttert, die konnten das für sich so stehen lassen.“
Allerdings hat er einmal auch einen kennen gelernt, der die Ansicht vertrat, dass Homosexualität einer Elite vorbehalten bleiben muss. Fürs Volk sollte es hingegen ein Tabu sein, weil sonst die öffentliche Ordnung durcheinander geriete.
Als bigott empfand Rusche manchmal auch seine eigene Partei. Unter anderem auch im Umgang mit seinem Schwulsein. Da gibt es eine Geschichte, die er einem Journalisten der Süddeutschen Zeitung erzählte. Damals, als Joschka Fischer seinen Stuhl für ihn räumen musste, kam Rusche eines Tages zu ihm ins Büro. Fischers Füße waren lässig auf dem Schreibtisch abgelegt. „Ach, Herbert“, sagte er, „politisch hab ich nichts gegen dich, wirklich nicht. Wenn du nur nicht so weinerlich wärst.“
Weinerlich? Wörtlich konnte das nicht gemeint sein. Denn eigentlich hat er überhaupt nichts Weinerliches an sich. So ganz nebenbei im Gespräch mit mir hat er mal erwähnt, dass er all denen „eins auf die Fresse gegeben“ hat, die früher wegen seinem Schwulsein handgreiflich wurden, auch wenn er selbst dabei was abbekam. Ohnehin scheint er eine Menge wegstecken zu können.
Einen ganz kurzen Moment lang zog er in Erwägung, auch Fischer eine zu scheuern. Für dessen blöde Bemerkung. Aber dann ließ er es doch bleiben.
Nach den vier Jahren in Bonn war Schluss mit dem Parteiengagement. Aus und finito, ganz abrupt. Als Mitarbeiter in der Fraktion war er nicht mehr erwünscht; in seinem früheren Landesverband hatte man ihn vergessen. Herbert Rusche sagt, man habe ihn rausgemobbt, und wenn man auf das Thema zu sprechen kommt, verdüstert sich seine Miene.
„Ich gehörte keinem der Machtblöcke an, hab nicht taktiert. Um Karriere zu machen, muss man vermutlich die Hälfte seiner Zeit der persönlichen Öffentlichkeitsarbeit widmen. Das ist aber nicht mein Ding, ich bin kein Otto Schily, ich bin nun mal ein Freak.“
Ein Freak? Na ja, den Eindruck macht er nicht gerade. Aber er scheint jemand zu sein, der keinen sehr ausgeprägten Führungsanspruch hat, der keinem etwas Böses will, solange man ihm nicht blöd kommt. Wenn einem jedoch der nötige Machtinstinkt und eine gewisse Skrupellosigkeit fehlen, ist das für die große Politik vielleicht keine gute Voraussetzung. Wer dort Entscheidungen fällen muss, darf eine Debatte nicht unendlich lange rausziehen, darf nicht grenzenlos Rücksicht nehmen, sondern hat Tatsachen zu schaffen, die zwangsläufig anderen wehtun.
Trotzdem leuchtet unmittelbar ein, dass Rusche einfach nicht in dieses Milieu der grünen Elite gepasst hat, mit all den Akademikern, die zum Leben schon immer einen Sicherheitsabstand gebraucht haben und die auf jemanden wie ihn, der sich von Job zu Job gehangelt hat, naserümpfend herabblicken.
Das Aus traf ihn unvorbereitet. Zum ersten Mal in seinem Leben war er ein Jahr lang arbeitslos. Auf dem Arbeitsamt sagte man ihm: „Das haben wir auch noch nicht erlebt – ein Bundestagsabgeordneter, der sich arbeitslos meldet.“
Später rappelte er sich wieder auf, immer wieder. Der schweren Krankheit, die ihn bald ereilte, zum Trotz. Erst verdingte er sich als Staubsaugerverkäufer, später als Geschäftsführer eines schwulen Buch- und Pornoladens. Zwischendurch war er der erste Betreiber von 0190-er-Nummern in der Region. Ja, wirklich: An seinem fragmentierten Lebenslauf hätten radikale Wirtschafts- und Arbeitsreformer ihre Freude; er könnte ihnen als Kronzeuge für die These dienen, dass ein Mensch flexibel sein kann, wenn er sich nur ein wenig Mühe gibt. Aber wer außer ihm würde schon einen solchen Überlebenstrieb an den Tag legen? Welcher seiner Ex-Kollegen von den Grünen würde sich dazu herablassen, als Vertreter von Tür zu Tür zu tingeln? Woher nimmt er diese Kraft?
Es fällt auf, dass er all seine Geschichten aus der Perspektive eines staunenden Kindes erzählt, ganz gleich, ob es nun um den Bundestag geht, um den Sex-Shop oder um Staubsauger. Es spricht für ihn, dass er in seiner augenblicklichen Beschäftigung immer voll und ganz aufzugehen scheint.
Seine Augen funkeln, wenn er von seinem Tibet-Engagement an der Seite von Petra Kelly erzählt. Oder von dem schwulen Rentner und dessen jüngerem Freund, die häufig zu ihm in den Pornoladen kamen, nur um sich mit ihm zu unterhalten. Oder von dem schwulen Freund, der Sammler alter Haushaltsgeräte mit
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