Grenzen der Sehnsucht
verlieh.
Etwa zwanzig Jahre sind inzwischen vergangen. Zwanzig Jahre Erfahrung mit dem Frankfurter Szeneleben, in das er sich als jugendlicher Landflüchtling unbefangen reingestürzt hatte, wie so viele andere aus der Umgebung auch.
Frankfurt hatte es ihm angetan, nachdem sich bei seinem ersten Besuch im Construction Five das Londoner Schlüsselerlebnis gewissermaßen wiederholt hatte: Eingeschüchtert stand er da mit dem Rücken zur Wand und sah den durchtrainierten amerikanischen Soldaten zu, die unter den Lichtblitzen der Stroboskope mit nacktem Oberkörper tanzten. Aus voller Kehle grölten sie den Refrain von „So many men, so little time“ mit und hatten offenbar eine Menge Spaß. Sie strahlten obendrein ein Selbstbewusstsein aus, das er zuvor mit schwulem Leben nicht in Verbindung zu bringen wusste.
Wie auch? Der einzige Schwule, den er bis dahin kannte, war ein älterer Mann aus seinem Dorf, den er nur als tragische Gestalt erlebt hatte. Einer, der immer gut angezogen war und nach Parfüm roch. Das war in den achtziger Jahren auf dem Dorf noch nicht üblich.
„Der war Anfeindungen ohne Ende ausgesetzt“, erinnert sich Mika.
Was ging Mika da als Jugendlicher durch den Kopf?
„Das war so eine Mischung aus Mitleid und Respekt. Ich habe mich immer gefragt: Wo kriegt der bloß seine Sexualkontakte her? Wie hält der es aus, ständig gemobbt zu werden? Einmal hab ich auf der Kirmes erlebt, wie sich der ganze Hass gegen ihn entladen hat. Man hat ihn dort zusammengeschlagen. Ich stand ohnmächtig an der Seite und habe mir nichts anmerken lassen, um mich selbst nicht verdächtig zu machen. Man hätte mich sonst ausgegrenzt wie ihn.“
Ungedanken – so hieß der Ort im Nordhessischen, einer Region, die zu damaliger Zeit noch Zonenrandgebiet war und wo hier und da mal ein paar versprengte Touristen auftauchten.
Sonst verschlug es da kaum jemanden hin, und heute ist das kaum anders. Ein beschauliches Dorf von jener Art, wie es Tausende in Deutschland gibt. Wer sein Schwulsein als einen wichtigen Teil seiner Identität begreift, dem bleibt nichts anderes übrig, als in eine Metropole zu ziehen.
Hat sich im Lauf der letzten zwanzig Jahre die Einstellung gegenüber Homosexualität nicht auch in Ungedanken verändert? Immerhin ist man dort übers Fernsehen an das aktuelle Weltgeschehen angeschlossen.
Mika hält kurz inne und schaut mich an, als hätte ich eine blödere Frage kaum stellen können. „Nein“, sagt er entschieden, „das wird beides sauber getrennt. Es hat sich eine merkwürdige Doppelmoral weiterentwickelt, die es auch früher schon gab. Ich erinnere mich, dass zwei Schwule bei uns im Dorf ihr Ferienhaus hatten. Das war so ein Schauspielerpärchen. Künstler eben, bei denen war das dann wieder in Ordnung. Die hatten mit der Dorfgemeinschaft nicht viel zu tun, die waren jenseits von gut und böse.“
Mika hingegen war einer, der dazugehörte. Ihm hätte man sein Schwulsein nie und nimmer durchgehen lassen. Er war einer der Kirmesburschen, die sich aus Tradition zusammentun und Jahr für Jahr die Kirchweihe organisieren, das wichtigste Fest in Ungedanken. Zu den Kirmesburschen waren nur Altdörfler zugelassen.
Eine Weile lang verhielt er sich so, wie er glaubte, sich verhalten zu müssen: Er legte sich eine Freundin zu und spielte für die anderen den Hetero. Selbst dann noch, als er längst Samstagabends nach Frankfurt in die Szene pendelte.
Das führte zu einem ziemlichen Durcheinander. Die Geschichten, die er erfinden musste, um seine Ausflüge nach Frankfurt zu erklären, hörten sich bald nicht mehr glaubwürdig an. Seine Vorzeigefreundin war ohnehin misstrauisch geworden, weil er immer Ausreden parat hatte, wenn es ans Eingemachte ging. Sie war nicht die einzige.
„Frauen merken das, wenn du schwul bist. Die Männer schauen ihnen normalerweise immer auf die Titten oder den Arsch. Wenn das nicht passiert, schöpfen sie Verdacht. So kam es, dass man sich im Dorf schnell rumerzählte, dass ich schwul bin.“
Doch wie Mikas geheimes schwules Leben aussah, davon hatten seine Bekannten in Ungedanken natürlich keine Vorstellung. Nicht den leisesten Schimmer, was für strenge Regeln es gab, um wirklich und wahrhaftig zur schwulen Subkultur dazuzugehören. Als Landbursche hatte er selbst ja auch keine Ahnung davon, aber man hat es ihm schnell beigebracht.
„Schätzchen“, so hat man ihn in Frankfurt in höflichem, aber bestimmtem Tonfall empfangen, „du kannst keine Edwin-Jeans
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