Grenzen der Sehnsucht
individualistischen Glamours geworden war. Das Frankfurter no name, das viele amerikanische Soldaten besuchten, zählte deutschlandweit zur Avantgarde der schwulen Subkultur. In den beginnenden achtziger Jahren wird es abgelöst von der ersten Mega-Disco für Schwule, dem Construction Five. Wie kein anderer Ort symbolisiert es das neue Lebensgefühl, zu dem viel Sex und Lifestyle-Drogen gehören. In der Annonce, die in HomoZeitschriften geschaltet ist, stehen sich zwei Macho-Schwule in cooler Pose gegenüber – der eine im Holzfällerhemd und mit Sonnenbrille, der andere mit Bauhelm auf dem Kopf und einer Bierflasche in der Hand, beide mit Schnauzbärten. Zwei lonesome Cowboys, die – man ahnt es – wohl nur für einen One-Night-Stand zusammenfinden und spätestens am nächsten Wochenende abermals auf Jagd gehen werden, jeder für sich allein mit einem Fläschchen Poppers in der Tasche.
So sah es aus, das neue amerikanische Rollenbild für Schwule, das nun drauf und dran war, auch Deutschland zu erobern.
Ein ganz anderes Bild dagegen, das die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Jahr 2003 an prominenter Stelle im Lokalteil platziert: zwei schwule Männer, die beide in einem Anzug stecken. Gemeinsam halten sie eine Sonnen-blume in der Hand. Cool sehen sie nicht aus, im Gegenteil, eher ein bisschen bieder. Sie tragen Brille, was in der Szene ohnehin als uncool gilt, und sie lächeln, glücklich und kein bisschen gekünstelt, eher ein wenig verschämt, weil ihnen so viel Aufmerksamkeit von Fotografen zuteil wird. Es ist ein Hochzeitsbild, vermutlich das erste eines schwulen Pärchens, das die stockkonservative Zeitung in der Zeit ihres Bestehens zu veröffentlichen wagt. Den amerikanischen Hochzeitsbildern aus San Francisco, die kurz darauf um den Erdball gehen werden, ist das Foto ausnahmsweise mal einen Schritt voraus. Der dazugehörige Artikel legt nahe, dass die beiden ihre Homosexualität „verantwortlich leben“ wollen. Einer von ihnen ist Landwirt; der andere hat Betriebswirtschaft studiert.
Von Revolution also keine Spur mehr. Sie ist brav geworden, Frankfurts schwule Szene. Zu brav, wie viele meinen, fast ein bisschen langweilig. Und so kann man im Café Pulse zur Mittagszeit etwas beobachten, das man in schwulen Lokalen anderer deutscher Städte so gut wie nie zu Gesicht bekommt: Männer im Business-Outfit und mit Aktentasche, die konzentriert an ihrem Tisch sitzen und geschäftig auf ihr Notebook eintippen, um für ihre Karriere ja keine wertvolle Zeit zu verschwenden.
Wem dieser Zeitgeist nicht gefällt, der findet in Frankfurt gewiss immer noch seine Nischen. Im Vergleich zu den wilden Zeiten von früher erscheint das alles jedoch nur noch wie ein blasser Abglanz. Doch schließlich gibt es die Möglichkeit, am Wochenende nach Mannheim zu pendeln. In das MS Connexion, das die nostalgische Hemmungslosigkeit der achtziger Jahre lebendig werden lässt und wo manche angeblich noch so richtig die Sau rauslassen.
Achtung: Der Shuttle-Bus zwischen Frankfurt und Mannheim fährt inzwischen nur noch zu besonderen Anlässen.
„Schätzchen, wir müssen dich neu stylen!“
Wie hessische Provinzler in Frankfurt empfangen werden
Bislang hatte sich Mika noch nicht großartig den Kopf darüber zerbrochen, was er aus seinem Leben eigentlich machen möchte. Dass er sich mehr für Männer interessierte als für Frauen, war ihm bereits klar. Familie und so, das kam für ihn nicht in Frage, und andere Lebenskonzepte kannte er nicht. Vom Schwulsein hatte er keine so konkreten Vorstellungen.
Dann eröffnete sich ihm auf einer Klassenfahrt nach London eine Perspektive, die ihn so faszinierte, dass er sie von da an nicht mehr aus den Augen verlor.
„Ich hatte mich von der Gruppe abgeseilt und bin abends auf eigene Faust losgezogen“, sagt er. „In einer Bar lernte ich jemanden kennen, einen Bodybuilder, der mich mit zu sich nach Hause nahm. Er wohnte in einer riesigen Loftwohnung mit zwei anderen Typen zusammen und hatte zwei Jobs. Tagsüber arbeitete er für ein paar Stunden in einem Büro; abends stand er in einer schwulen Kneipe hinterm Tresen. Das wurde für mich zum Vorbild: Mit anderen Schwulen zusammenarbeiten und Freizeit verbringen, alles ganz relaxt sehen, viel Sex haben, nach Gran Canaria in Urlaub fahren. Das war das schwule Großstadtleben, das ich von da an immer haben wollte.“
Eine Art von Lifestyle, die seinen bis dahin im Nebel da-hindümpelnden Sehnsüchten endlich ein Bild mit Konturen
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