Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grenzen der Sehnsucht

Grenzen der Sehnsucht

Titel: Grenzen der Sehnsucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel Kraemer
Vom Netzwerk:
einzuziehen, galt noch das Prinzip der Rotation, nur eine halbe Wahlperiode sollte das Mandat gelten. Rusche teilte es sich mit Joschka Fischer, der für ihn 1985 den Stuhl räumen musste. Und dann saß er im Parlament, wo er bald von sich reden machte.
    Wir sitzen im Harveys im Frankfurter Nordend, einem Café mit Putten und aufgemalten italienischen Säulen an der Wand, das fest in schwul-lesbischer Hand ist. Anders als das Publikum, von dem Rusche glaubt, das es zu mehr als 90 Prozent hetero ist.
    Hinten in der Speisekarte findet sich immerhin der Hinweis, dass das Lokal nach Harvey Milk benannt ist, der in den siebziger Jahren zum ersten offen schwulen Stadtrat San Franciscos gewählt wurde. Ein amerikanisches Idol, das in der Szene auch heute noch gefeiert wird.
    Harvey Milk, der große Held. Auf manchen Fotos aus den Siebzigern sehen sich Milk und Rusche verblüffend ähnlich, das Bärtchen und die halblangen, leicht gelockten Haare. Der selbstbewusste Ausdruck im Gesicht. 1983 hatte der Bay Area Reporter aus San Francisco getitelt: „Herbert Rusche is the Harvey Milk of West-German Gays“.
    Für manche war Rusche tatsächlich ein Held; an Charisma fehlte es ihm gewiss nicht. Außerdem machte er nicht nur mit politischen Forderungen Furore. Einmal bildete das Lifestylemagazin Wiener ausgerechnet 18 Fußball-Nationalspieler mit nacktem Oberkörper ab und bat Rusche um ein „fachmännisches Urteil“ – ganz in der Manier, wie es sich zu damaliger Zeit nur heterosexuelle Männer erlauben durften, über Frauen zu urteilen. Zu Lothar Matthäus meinte er: „Alles gut proportioniert wie bei Rambo. Erobert sicher die Mädchenherzen. Mein Herz zwar nicht, aber sonst ... Also, attraktiv ist er auf jeden Fall.“
    In der schwulen Szene Deutschlands galt das fraglos als ein gelungener Coup, und doch hielt sich insgesamt der Jubel über Rusche sehr in Grenzen. Verwunderlich eigentlich, doch in der Bewegung hierzulande misstraute man lange dem Heldenkult, zumindest noch in den Achtzigern, als Rusche der erste offen schwule Bundestagsabgeordnete in der Geschichte der Bundesrepublik wurde.
    „Auch ich wollte damals den Personenkult nicht“, sagt Rusche.
    Wie war das für ihn damals, als er in den Bundestag einzog?
    „Als offen Schwuler im Parlament zu sitzen fand ich natürlich toll. Aber ich hätte mich auch für jeden anderen gefreut, der es in diese Position geschafft hätte.“
    Man kann sich heute kaum noch vorstellen, wie das damals im Bonner Polit-Milieu für Furore gesorgt haben muss. Schnell wurde er bekannt wie ein bunter Hund, auch wenn er so gar kein Paradiesvogel war.
    Wer ihn kennt, sagt, dass er es nicht mal dann schafft, tuntig zu sein, wenn er sich größte Mühe gibt. Dazu ist er einfach zu burschenhaft.
    Ungeachtet dessen kam es einmal zu folgender Begebenheit: Er hielt eine Rede vor dem Parlament, setzte sich daraufhin hinter das Rednerpult, an der Seite des Bundestagspräsidenten, denn an diesem Tag war Rusche Schriftführer. Der folgende Redner bezog sich auf ihn und fragte: „Ja, der Herr Rusche, wo ist er denn eigentlich?“
    Dann rief jemand: „Vorsicht, er ist hinter ihnen!“ In der CDU-Fraktion brach hämisches Gelächter aus. Schenkelklopfen wie am Stammtisch.
    Ein paar Tage später hielt Rusche abermals eine Rede, in der er auf den Vorfall einging. Dass es eine „unglaubliche Dummheit“ sei, Schwule auf Sexualpraktiken zu reduzieren. Demonstrativ verließ die CDU-Fraktion den Saal.
    Trotzdem hat er eine differenzierte Meinung über die Union. „Es gab ja einige Schwule im Parlament, die ihr Schwulsein für sich behielten. Die vertraten die Ansicht, Homosexualität sei Privatsache. Die haben mich erst mal vorsichtig abgetastet, und später bin ich mit denen ab und zu ein Bierchen trinken gegangen. Ins Bonner Domfäss chen. Ich muss sagen: Die von der CDU gingen im Rahmen ihrer Doppelmoral immer noch offener mit dem Schwulsein um als die von der SPD. Ich erinnere mich an einen von der Union: katholisch, verheiratet, mehrere Kinder. Der hatte keine Berührungsängste, im Gegenteil. Immer, wenn er mich sah, hat er mich begrüßt, in aller Öffentlichkeit. Weil er seine Familie als Alibi hatte, fühlte er sich sicher.“
    Gab es da unter den versteckten Schwulen bei den Unionsparteien keinen Neid auf ihn, der so unbefangen mit seinem Schwulsein umgehen konnte? Keinen Anflug von Homophobie, weil die eigene Sexualität geleugnet werden musste?
    „Nein, die lebten in einer anderen Welt, die

Weitere Kostenlose Bücher