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Grenzen der Sehnsucht

Grenzen der Sehnsucht

Titel: Grenzen der Sehnsucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel Kraemer
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eine von zahlreichen Facetten; Berufung und Weltanschauung werden als eine Frage des Geschmacks betrachtet. Hingegen gewinnen ästhetische Vorlieben vom Outfit bis zur Wohnung an Bedeutung, genauso wie die Spezialisierung des sexuellen Beuterasters. Alles lässt sich in allen nur denkbaren Variationen beliebig miteinander variieren. Anything goes lautet das Schlagwort, für das besonders häufig der schwule Mann als Vorzeigesubjekt herhalten muss, weil er ohnehin in keines der traditionellen Muster passt – ganz gleich, aus welchem Kulturkreis er stammt. Allein sein Coming-out ist in vielen Fällen schon der erste Schritt, der ihn, mehr oder weniger freiwillig, von seinem bisherigen Umfeld abkoppelt, ihn zum Ausscheren aus gewohnten Bahnen veranlasst und seine Biografie ab einem bestimmten Punkt zu einer einzigen Selbstinszenierung werden lässt. Tatsächlich finden sich nirgendwo so viele Experten für ausgefallene Lebensstilisierungen wie in der schwulen Subkultur. Der Drang zur schillernden Selbstdarstellung auf den CSD-Paraden kann da bestenfalls den Hauch einer Ahnung vermitteln.
    Doch die fröhliche Unbekümmertheit ist nur Fassade. Das eigene Leben ständig neu zu erfinden und dabei immer schräg, schrill oder sonst auf eine Weise originell sein zu müssen, ist nicht für jeden eine erfüllende Lebensaufgabe. Viele verspüren das Bedürfnis, den Brüchen in ihrer Biografie einen Sinn abzutrotzen und einen roten Faden zu finden, der ihnen in ihrem weiteren Leben eine bestimmte Richtung weist.
    Zu ihnen gehört zum Beispiel der 29-jährige Sebastian Nitz, der in sich verblüffend viele Identitäten vereint – und den es, wie so viele andere auch, irgendwie nach Frankfurt verschlagen hat, in irgendeine Metropole eben.
    Steckbriefartig lässt sich seine Geschichte folgendermaßen umreißen: Aufgewachsen ist Nitz in einer Bergarbeiterfamilie im tiefsten Ruhrpott. Obwohl er eigentlich von Geburt her Türke ist, spricht er kein Wort türkisch. Er studierte Politikwissenschaften und identifizierte sich anfangs mit den Grünen. Irgendwann fühlte er sich jedoch der CDU näher, für die er sich heute engagiert. In der Schwulenbewegung ist er nach wie vor aktiv. Seit seinem Umzug nach Frankfurt arbeitet er in der Kommunikationsabteilung einer Großbank. Genauso gut hätte er auch in Hamburg oder in Berlin landen können, wenn ihm dort eine ähnliche Stelle angeboten worden wäre. Wichtig war ihm vor allem, in einer Großstadt zu leben.
    Das alles hört sich verwirrend und widersprüchlich an? In dieser Kürze kein Wunder. Doch von vorne.
    Eine Wohnung in einem alten Bomheimer Mietshaus. Die Tür geht auf, der erste Eindruck: Anarchie, ein Tollhaus! Zwei Katzen flitzen durch den Gang, die eine dicht hinter der andern her. Dann entschwinden sie dem Blickfeld. Stille, einen kurzen Moment lang. Gepolter. Dann noch mal die gleiche Szene, nur in die andere Richtung, wie in einem Tom und Jerry -Cartoon.
    So flitzt und tollt und poltert es noch eine Zeit lang weiter. Später wird eine von beiden aus Neugier jene Tür öffnen, die doch gerade deshalb geschlossen wurde, damit die Katzen draußen bleiben und nicht stören können. Ein geübter Sprung auf die Klinke, wieder poltert es, und schon fällt die Mieze ungestüm in das Zimmer ein, wo ich mich gerade mit Sebastian Nitz im Gespräch befinde. In einem ernsthaften Gespräch, wohlbemerkt.
    Das erste, was mir an ihm auffällt, ist etwas, das nicht da ist: die ironische Distanz zu allem und jedem, die sich so viele Schwule im Lauf der Jahre aneignen – entstanden aus Selbstschutz und verfeinert zu einer Art schwulem Humor, der inzwischen fester Bestandteil des Homo-Lifestyles ist. Alles, was Nitz sagt, ist wortwörtlich gemeint. Zynismus und Sarkasmus scheinen ihm fremd zu sein.
    Nitz hat große, dunkle Bambi-Augen, ein schmales Gesicht und kurzgeschorenes Haar. Mit dem weiten Wollpulli, den er sich nach dem Arbeitsalltag bei der Bank übergeworfen hat, könnte man ihn sich auch hinter der Theke eines Ökoladens vorstellen. Er macht einen auffällig ruhigen, besonnenen und zurückhaltenden Eindruck. Also eher der introvertierte Typ, ganz im Unterschied zu seinen Katzen. Einfach ungebeten irgendwo zur Tür hereinplatzen und Rambazamba machen, das wäre wohl seine Sache nicht, jedenfalls kann ich es mir bei ihm nur schwer vorstellen.
    „Ich bin ein klassisches Kind des Ruhrgebiets“, beginnt Nitz zu erzählen. „Mein Vater arbeitete beim Pütt, also im Schacht bei der

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