Grenzen der Sehnsucht
Ruhrkohle, mein Großvater arbeitete unter Tage, mein Onkel war dort sogar Steiger, meine Tante war in der Verwaltung, und auch mein Bruder absolvierte bei der Ruhrkohle seine Ausbildung.“
Ein Berufszweig, der für einen eher zartbesaiteten Jungen wie ihn nicht gerade Vorbild sein konnte. Wurde denn auch von ihm eine Karriere im Grubenwesen erwartet?
„Nein, das Bergarbeitermilieu war nichts für mich, obwohl es die Identität der ganzen Region prägte. Meine Eltern waren stolz, als ich mit zwölf in den Tambourcorps Voerde-Möllen eintrat, einem Spielmannszug mit Flötisten und Trommlern, alles nur Männer. Ich wurde schnell ein sehr guter Trommler. Ich spielte schon mit 17 Jahren beim Schützenfest das Trommlersolo beim Zapfenstreich, was ganz Besonderes also. Allerdings war ich alles andere als ein Star im Tambourcorps. Ich war irgendwie anders, inzwischen wusste ich: unter anderem schwul. Mit den ewig bierseligen Frauenhinterherpfeifern konnte ich nie so recht etwas anfangen. Das Ganze war innerlich eher bedrückend für mich.“
Und obgleich er sich unter all den Heteros fehl am Platze fühlte, muss ihm der Spielmannszug etwas bedeutet haben. Sonst hätte er eines Tages wohl kaum vor versammelter Mannschaft den kühnen Vorschlag unterbreitet, die altbackene Sitte der Männerbündelei endlich über Bord zu werfen und den Verein für Flötistinnen und Trommlerinnen zu öffnen.
Kaum, dass er ihn ausgesprochen hatte – nicht ganz uneigennützig, wohlgemerkt, denn mit Frauen kam er seit jeher viel besser zurecht als mit Heteromännern –, da herrschte betretenes Schweigen. Nein, damit hatte er sich definitiv zu weit aus dem Fenster gelehnt. Eine dumme Idee, fanden seine Kameraden in Voerde-Möllen, und so mussten Frauen auch weiterhin draußen bleiben.
Nach dem Abitur kam ihm der Studienplatz in Duisburg gerade recht, um dem Verein und überhaupt dem ganzen Kleinstadtleben endlich den Rücken kehren zu können. Das ist nun schon zehn Jahre her.
„Als ich im letzten Jahr am Volkstrauertag meine Eltern besuchen ging, marschierte gerade der alte Spielmannszug, dem ich damals sieben Jahre angehört hatte, mit einem Kranz in Richtung Denkmal vorbei. Das war ein gespenstischer Anblick! Die ganzen Mittrommler von damals waren schon ganz schön in die Jahre gekommen.“
Hat er denn – mal abgesehen von seiner Familie – sonst eine Bindung an den Ruhrpott?
„Als ich neulich am Rhein-Herne-Kanal entlangfuhr und die Industriekulissen sah, hat mich das emotional sehr berührt. Für mich ist das ein wunderschöner Flecken in Deutschland. Seit ich weggezogen bin, ist Heimat für mich ein wichtiger Begriff geworden. Die Bodenständigkeit des Potts weiß ich jetzt mehr zu schätzen. Die Menschen sind offen, ruppig und herzlich, in Frankfurt dagegen abgehobener und intellektuell.“
Im letzten Jahr passierte etwas, das ihm eine Zeit lang wie ein schicksalhafte Fügung erschien: Er lernte einen Mann aus Dortmund kennen, ganz in der Nähe von Voerde.
„Ich habe wirklich geglaubt, das wäre so eine Art Bestimmung, ein Rückruf in die Heimat und am Ende geht’s zurück in die Ruhrgebiets-Großfamilie. Der verlorene Sohn kehrt zurück, Schwule und Heteros glücklich vereint, wie in einem amerikanischen Epos. In dieser Zeit eröffnete die Bahn sogar eine Schnellstrecke zwischen Frankfurt und dem Rheinland – ich dachte, das sei vielleicht ein Wink des Schicksals.“
Das hätte ja wirklich ein roter Faden sein können. Aber da wurde nichts daraus. Schade, denn man merkt ihm an, dass er auf eine solche Versöhnung mit seiner Vergangenheit gehofft hatte. Die Heilung des Small-Town-Boy- Syndroms. Fast könnte man den Eindruck gewinnen, das wäre ihm wichtiger gewesen als die Beziehung mit dem Dortmunder. Dieser machte nach drei Monaten einfach per E-Mail mit ihm Schluss. Also nicht gerade auf die vornehme Art.
„Das war es dann erst mal. Das Ruhrgebiet wollte mich nicht wirklich zurück, der liebe Gott beauftragte mich, meinen Weg weiterzugehen.“
Und das hat ihn zum Aufgeben bewogen?
„Wer weiß? Vielleicht sind da ganz neue Horizonte, die ich irgendwann erobern werde. Derzeit lerne ich fleißig hebräisch und könnte mir vorstellen, in vielen Jahren mal nach Israel auszuwandern, das ich schon letztes Jahr besucht habe. Oder in die USA. Oder sogar nach Indien, dem wunderbar aufstrebenden Land. Doch jetzt will ich erst einmal in Frankfurt bleiben. Und auch endlich mein privates schwules Liebesglück finden in
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