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Grenzen der Sehnsucht

Grenzen der Sehnsucht

Titel: Grenzen der Sehnsucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel Kraemer
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Millerntor zum einschlägigen Treffpunkt für homosexuelle Kontakte.“
    Und so wandelt sich Sankt Pauli allmählich zu einem anrüchigen Ort, von dem sich das Bürgertum lieber distan-ziert?
    „Nein, überhaupt nicht. Auch bürgerliche Familien zieht es dorthin, mit Kind und Kegel, denn von dort weht auch der Duft der großen, weiten Welt. In Hamburg befindet sich der Schlüsselhafen Deutschlands. Wir müssen uns klar machen: Es handelt sich um eine Zeit, in der es weder Fernsehen noch Radio gibt. Die Matrosen haben wenig Geld, sie handeln mit allem, was sie von ihren Reisen mitgebracht haben. Es riecht nach exotischen Gewürzen, gelegentlich sieht man sogar wilde, fremde Tieren, man besucht orientalische Badehäuser, eine chinesische Kolonie entsteht. Sankt Pauli ist ein einziges Panoptikum, ein Schaufenster der Welt, in dem auch Vergnügungsstätten für die gehobene, großbürgerliche Kultur beheimatet sind. So blieb es, bis schließlich die Nazis in den dreißiger Jahren dem ganzen Treiben ein gewaltsames Ende bereiten.“
    Von da an war es vorbei mit der Blütezeit. Nach dem geistig-kulturellen Totalschaden durch den Nationalsozialismus taten die Bomben der Alliierten ihr Übriges: Der Kiez lag in Trümmern. Nach dem Krieg wurden die Baulücken durch behelfsmäßige Baracken gefüllt. Erst von da an entwickelte sich Sankt Pauli im Lauf der Jahrzehnte zu einem Rotlichtbezirk, der auf der ganzen Welt zum Synonym für käufliche Liebe wurde, obwohl doch das älteste aller Gewerbe längst rund um den Globus florierte. Doch an keinem andern Ort wurde es so zur Schau gestellt, und nirgendwo sonst setzte die Branche so viele Akzente wie rund um die Reeperbahn.
    „Als schließlich das Eros-Center in den Siebzigern eröffnet wurde, war das eine Sensation“, weiß Terfloth zu berichten. „Es entsprach voll und ganz dem Zeitgeist und war der Vorstellung von industrialisiertem Sex verpflichtet – in sauberen, sicheren, standardisierten Zimmern, die um einen Kontakthof herum gruppiert waren. Keine versifften Matratzen, keine fetten Kakerlaken, die von alten Rohren an der Decke purzeln. Für damalige Verhältnisse war das ein enormer Fortschritt. In den späten achtziger Jahren wiederum empfand man dieses Ambiente als zu steril.“
    Seit Anfang der Neunziger kehrt schließlich die kulturelle Vielfalt auf den Kiez zurück – wenngleich auch sehr zaghaft. Corny Littmann, einst Vorkämpfer der radikalen Schwulenbe-wegung, eröffnete 1991 an der Reeperbahn das Schmidt Theater und kurz darauf auch noch Schmidts Tivoli. Man merkt beiden Häusern in ihrem Kleinkunst-programm zwar einen deutlich schwulen Akzent an, dennoch richten sie sich an ein breit gestreutes Zielpublikum. In Hamburg herrscht darüber Konsens, dass sie den Kiez aufgewertet haben.
    Von einer Schicki-Mickisierung des Quartiers kann deswegen jedoch nicht die Rede sein. „Auf Sankt Pauli werden Mediziner auch heute noch mit Armutskrankheiten konfrontiert, die es ansonsten in Mitteleuropa schon lange nicht mehr gibt“, sagt Terfloth.
    Trotzdem mischt immer mehr junges Volk aus eher gutbürgerlichem Hause den Bezirk auf. Töchter und Söhne aus gutem Hause, die das Umfeld zwischen Straßenstrich und Alkoholikern „authentischer“ finden als das keimfreie Vorortidyll, in dem sie aufgewachsen sind. Und auch immer mehr Schwule aus unterschiedlichsten Einkommensschichten zieht es auf den Kiez. Obgleich es mit der schwulen Hafenromantik längst vorbei ist.
    „Inzwischen sind die Liegezeiten der Schiffe an den neuen Terminals so kurz, dass die Seemänner kaum noch Landgang haben“, bedauert Terfloth. „Hin und wieder gibt es jedoch Ausnahmen, wie neulich, als ein Kriegsschiff mit russischen Matrosen anlegte. Solche Nachrichten verbreiten sich unter Schwulen wie ein Lauffeuer. Da geht man dann schon mal nach Sankt Pauli, um Ausschau zu halten.“
    Auch ohne Matrosen amüsiert man sich in der Wunder bar oder in Toom Peerstall, also jener legendären Kneipe, die früher von dem Wiener Transvestiten Katharina betrieben wurde.
    Der lebte, wie man sich erzählt, ein anstrengendes Doppelleben: In Wien soll er kommunalpolitisch engagiert gewesen sein; in Hamburg stand er hingegen mit Perücke hinter dem Tresen. Ausgerechnet auf der ICE-Strecke zwischen beiden Städten machte eines Tages sein Herz nicht mehr mit, er starb angeblich an einem Infarkt. Was für eine Geschichte! Allerdings kursieren von ihr unterschiedliche Versionen; es gibt ohnehin haufenweise

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