Grenzen der Sehnsucht
Verachtung bestraft, die bestenfalls durch eindrucksvolle Kenntnisse in der Filmografie von Pier Paolo Pasolini kompensiert werden könnte, eventuell auch durch ein originelles Zitat von Michel Focault aus Sexualität und Wahrheit. Oder durch eine qualifizierte Kritik an einer Aufführung von John Neumeier im Hamburg-Ballett.
Und weil das hanseatische Elitebewusstsein so aufge-bläht ist, kommt in Hamburg eben auch jenen schummerigen Orten eine besondere Funktion zu, in denen der gegenteilige Zustand herrscht – in Sankt Pauli und rund um den Hauptbahnhof.
Beim Besuch der Dominas auf der Reeperbahn ist jeder Anflug von Dünkel wie verflogen, genauso in schwulen Pornolabyrinthen wie dem New Man am Steindamm, wo Niveau, Herkunft und Stil auf einmal keine Rolle mehr spielen. Dort haben Männer miteinander Verkehr, die sich wenige Stunden zuvor im Café Gnosa keines Blickes gewürdigt hätten. Eine Regel muss dabei allerdings befolgt werden: Man darf vor, während und nach dem Sex auf keinen Fall die Anonymität durchbrechen und eine Unterhaltung beginnen. Das wäre jedenfalls sehr unhanseatisch.
Auf der Suche nach einer schwulen Hafenromantik:
Der Sex, die Stadt und ihre Geschichte
Es gibt wenige Dinge, die in unserer wohlstandsgesättig-ten Gesellschaft unbedingt noch erfunden werden müssen. Dazu gehören Zeitmaschinen. Wie in dem Zukunftsroman von H.G. Wells – nur dass sie natürlich weniger anfällig für Störungen sein dürfen.
Man nimmt Platz in einer Art Karosse, stellt auf einer Digitaluhr das gewünschte Datum ein, betätigt einen Hebel, und schon wird man in die gewünschte Epoche katapultiert.
In welches Jahr würde sich eigentlich ein Historiker beamen lassen, dessen Schwerpunkt unter anderem die schwul-lesbische Geschichte Hamburgs während des 20. Jahrhunderts ist?
Moritz Terfloth grinst.
„Ach, die goldenen Zwanziger dürften es gerne sein.“ Der 36-jährige lehnt sich in seinem Sessel zurück, verschränkt die Arme hinter dem Kopf und weitet den Blick. „Damals gab es in der Stadt eine aus heutiger Sicht kaum noch vorstellbare Ausgehkultur“, schwärmt Terfloth.
Und so muss das ungefähr ausgesehen haben: „Die Gol dene Dreizehn in Sankt Georg ist eines von mehreren Lokalen, in dem sich gleichgeschlechtliche Kontakte anbahnen. Es herrscht eine ganz andere Atmosphäre und ein ganz anderer Dresscode. Auf jeden Fall förmlicher als heute. Mit geschlechtlicher Ambivalenz kokettiert man allerdings damals schon, im Publikum tummeln sich auch maskuline Frauen in Anzügen und Männer in femininer Garderobe. Das Ambiente ist plüschig, üppig und nobel, die Kapelle auf der Bühne spielt Goodie Goodie von Benny Goodman. Eine Dame mit Bauchladen verkauft Zigaretten. Wenn man jemanden kennen lernen will, ordert man den Kellner, legt seine Visitenkarte auf ein Tablett und weist ihn an, diese beispielsweise zu Tisch Nummer 7 zu bringen.“
Auf einmal reißt ihn dann doch die Sorge um die Störanfälligkeit der Zeitmaschine aus seiner Vision wieder heraus: „Also, hör mal, am Ende des Jahrzehnts will ich von dort aber wieder verschwunden sein, bevor die Nationalsozialisten mit ihrem allumfassenden Zerstörungswillen alles niedermähen.“
Immer mit der Ruhe. Noch sind wir in den liberalen Zwanzigern. Wie muss man sich eigentlich Sankt Pauli zu damaliger Zeit vorstellen? Gab es auch dort schwules Leben? Und wie kam die Reeperbahn eigentlich zu dem einzigartigen Ruf, die „sündigste Meile der Welt“ zu sein?
„Dafür müssen wir die Zeit noch weiter zurückdrehen, ins frühe 19. Jahrhundert, als Sankt Pauli noch die ungeliebte Vorstadt von Hamburg ist. Da es außerhalb der Befestigung liegt, wird hier alles angesiedelt, was man nicht innerhalb der Stadtmauern haben will. Dazu gehört das Reepschlagen, also das Drehen der Seile, für das man auf einer Bahn so viel Platz benötigt wie die Länge des Seils. Auch die Dampfschiffe müssen vor Sankt Pauli anlegen, denn im Hafen neben den ankernden Segelschiffen werden sie wegen der Brandgefahr nicht geduldet. Immer mehr Matrosen bevölkern die Straßen der Vorstadt. Und eine große Zahl von Männern, die sich in den Kopf gesetzt haben, Seemann zu werden und darauf warten, dass man sie anheuert. Diebstahl, Mundraub und Prostitution gehören zum Alltag. Kneipen und andere Etablissements schießen wie Pilze aus dem Boden. Einige sind für ihr gleichgeschlechtlich orientiertes Publikum bekannt. Später wird auch die öffentliche Bedürfnisanstalt am
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