Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grenzen der Sehnsucht

Grenzen der Sehnsucht

Titel: Grenzen der Sehnsucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel Kraemer
Vom Netzwerk:
unserer Erziehung angeeignet haben?
    Würden das die meisten Menschen nicht als Bedrohung für ihr Selbstverständnis empfinden, wenn man ihnen sagte: Mannsein, Frausein, Homo- oder Heterosexualität, das ist alles irgendwie nicht „echt“, sondern bloß eine Konstruktion?
    „ Queer Theory geht ja nicht davon aus, dass es keine Unterschiede gibt“, entgegnet Micheler. „Natürlich muss man geschlechtliche Identitäten ernst nehmen, auch die schwule Identität, aber das alles ist nicht natürlich vorhanden, sondern hat eine Geschichte. Und genau darauf kommt es uns an: diese Geschichtlichkeit aufzuzeigen, die ja nichts anderes bedeutet, als dass sich bestimmte Vorstellungen von Geschlecht und sexueller Orientierung entwickelt haben und auch wieder ändern können. Es geht um die Frage, warum es in unserer Gesellschaft so wichtig ist, die Menschen in Männer und Frauen, in Homo- und Heterosexuelle einzuteilen. Das hat etwas mit Hierarchie zu tun, mit einer geordneten Struktur, in die Homosexualität lange nicht reingepasst hat. Schwule Identität hat dabei als Krücke gedient, um sich in einer Identitätskrise zurechtzufinden. Homosexualität ist jedoch kein Charakteristikum, sondern eine Handlung.“
    Und wie würde er seine eigene Sexualität bezeichnen?
    „Wenn mich jemand fragt, ob ich schwul bin, sage ich: Ich stehe meistens auf Männer. Ich bin jedoch der Ansicht, dass man daraus keine Identitätsgeschichte machen muss. Damit zieht man nur Grenzen, die meistens gar nicht nötig sind.“
    Sich sexuell nicht in eine Schublade stecken zu lassen – das hört sich sehr nach Zeitgeist an. Nach dem Mythos von den coolen Großstadtjungs, die von der schwulen Szene nichts wissen wollen, total unverklemmt mit ihrem sexuellen Begehren umgehen und offensiv andere Jungs angraben, wenn sie mit ihrer Clique unterwegs sind. In einem schwulen Magazin gab es dazu neulich mal eine Debatte, in der behauptet wurde, dass es die schwule Identität in jüngeren Generationen längst nicht mehr gäbe.
    „Ach ja, ich hab davon gehört“, winkt Micheler ab. „Meiner Meinung nach geht das an der Realität vorbei, auch wenn das für ein bestimmtes Milieu durchaus zutreffen mag. Aber das ist eine Momentaufnahme. Empirisch gesehen ist die Zahl gleichgeschlechtlicher Kontakte seit den späten sechziger Jahren sogar gesunken. Das kommt daher, dass es früher häufiger vorkam, dass zwei Jungs miteinander wichsten, das wurde damals nicht gleich als schwul klassifiziert. Heute gilt das gleich als Merkmal für eine homosexuelle Identität. Das schreckt viele ab.“

Sankt Georg, kein Stadtteil für brave Pärchen:
Von der Sehnsucht nach dem Leben auf dem Land
    Was tun, wenn man als Großstadt-Single keinen festen Partner findet, obwohl das der sehnlichste Wunsch ist, der einen morgens zum Aufstehen antreibt? Wenn man von One-Night-Stands nicht viel hält und ohnehin keine Lust verspürt, stundenlang durch Kneipen und Clubs zu streunen? Oder wenn man einfach nur wahnsinnig schüchtern ist?
    Über Hanseaten schnabelt der Volksmund gerne, dass sie besonders zurückhaltend und kaum gesellig seien. Wenn da was dran ist, ist das vielleicht der Grund, warum die Stadt auf ihrer offiziellen Homepage einen besonderen Service im Angebot hat: eine Rubrik „Hamburg für Singles“. Auf den Websites von München, Köln oder Berlin sucht man Vergleichbares jedenfalls vergeblich.
    Andere Wege, um den Partner fürs Leben kennen zu lernen, eröffnen sich über das Internet. Oder man sucht – ganz klassisch – mittels einer Annonce in einem Stadtmagazin.
    Über eine solche haben sich einst Bastian und Sven kennen gelernt. Seither hat das Single-Dasein für beide ein vorläufiges Happyend gefunden. Gemeinsam sind sie in eine Wohnung gezogen, und zwar nach Sankt Georg, jenem Stadtteil zwischen Hauptbahnhof und Außenalster, der seit den neunziger Jahren unter Schwulen immer mehr an Popularität gewinnt.
    Sankt Georg an einem frühen Abend im Juli. Auf dem Steindamm in der Nähe des Hauptbahnhofs wimmelt es nur so von herumstreunenden Männern, viele von ihnen offenbar auf der Suche nach einer schnellen Nummer. Vor den Hauseingängen verhandeln blassrosa geschminkte Mädchen mit osteuropäischem Akzent, doch das Portemonnaie sitzt den potenziellen Freiern offenbar nicht mehr so locker. Die schwächelnde Konjunktur macht sich nun auch in der Sexindustrie bemerkbar.
    Nicht weit davon, parallel zum Ufer der Alster, verläuft die schwule Szenemeile Nummer eins

Weitere Kostenlose Bücher