Grenzen setzen – Grenzen achten
entdeckte dieser, was wirklich wichtig war. Er ließ sich nicht mehr die Maßstäbe seines Kirchenvorstandes aufdrängen, der ein sehr verbürgerlichtes Christentum vertrat. Das Gebet machte ihn feinfühlig für das, was Gott heute wirklich von einer Gemeinde will und was die eigentlichen Bedürfnisse und Sehnsüchte der Menschen sind. Und er war natürlich auch nicht mehr so leicht von Wünschen anderer zu manipulieren.
Eine Frau erzählte, sie käme mit ihrer Mutter nicht mehr zurecht. Die hätte ständig Erwartungen und Forderungen an sie. Die Mutter fordert von ihr, sie solle jede Woche kommen und sie besuchen, und sie solle jeden Tag anrufen. „Mir ist alles zu viel. Ich spüre, wie schon bei der Fahrt zu ihr der Ärger hochsteigt. Und dann braucht sie nur ein paar Sätze zu sagen, und schon bin ich voller Wut. Ich schreie sie dann an. Dann tut es mir wieder leid.“ Ich sagte der Frau: „Warum sind Sie böse auf Ihre Mutter? Die darf doch Erwartungen haben. Es ist ihr gutes Recht. Aber Sie dürfen auch nein sagen. Sie müssen entscheiden, welche Erwartungen Sie erfüllen möchten und welche nicht. Diese Entscheidung dürfen Sie nicht der Mutter zuschieben.“ Die Frau konnte nicht nein sagen, weil sie doch die liebe Tochter der Mutter sein wollte. Weil sie sich selbst nicht geschützt hat und nicht zu ihren Grenzen gestanden ist, hat sie ihren Ärger auf die Mutter gerichtet. In Wirklichkeit war sie enttäuscht von sich selbst. Ein Blick auf das Verhalten Jesu mag den richtigen Impuls geben: Er jammert nie, dass die Menschen etwas von ihm wollen. Er steht zu seinen Grenzen und schützt sie. Er tut das, was er gerade braucht. Er rechtfertigt sich nicht vor anderen. Er folgt seinem inneren Gespür.
Erspüren, was möglich ist
In der Tradition des Benediktinerordens gibt es ein entwickeltes Gespür für den Umgang mit Belastungen und dezidierte Regeln, die auch im Alltag heutiger Anforderungen von Gültigkeit sind. Der Ordensgründer Benedikt mahnt in diesem Sinn etwa den Cellerar, also den für die vielfältigen wirtschaftlichen Belange des Klosters Verantwortlichen: Wenn die Gemeinschaft größer ist, soll er sich Gehilfen suchen. Er soll die Arbeit delegieren und auf mehrere Schultern verteilen, damit er mit innerer Ruhe das ihm anvertraute Amt zu erfüllen vermag. Im Lateinischen heißt es hier: „aequo animo“ – „mit Gleichmut“. Es ist ein Begriff aus der stoischen Philosophie, für die es wichtig war, in allem den inneren Frieden und die Ruhe zu bewahren, sich nicht von Emotionen hin und her zerren zu lassen. Die stoische Philosophie ist überzeugt, dass wir für uns selbst und für unsere Grenzen verantwortlich sind. Wenn wir uns nicht überschätzen oder übernehmen und unsere Arbeit gerecht verteilen, können wir mit innerem Frieden arbeiten. Wenn wir ärgerlich sind, dürfen wir die Schuld nie anderen zuschieben. Letztlich sind wir für unseren Ärger verantwortlich. Wir ärgern uns über uns selbst, weil wir nicht zu unseren Grenzen gestanden sind. Damit unsere Seele ausgeglichen ist, müssen wir nicht nur das Maß unserer Arbeit limitieren. Zugleich müssen wir auch unsere Einstellung ändern. Wir dürfen unsere innere Grenze nicht überschreiten lassen. Was wir tun, berührt unsere Emotionen. Aber die Grenze zum Heiligtum unserer Seele darf die Arbeit mit ihren Konflikten nicht überschreiten. Dafür sind wir selbst verantwortlich, und das dürfen wir niemand anderem in die Schuhe schieben. Benedikt wusste, dass er den Cellerar ausdrücklich dazu ermutigen musste, zu seinen Grenzen zu stehen. Es braucht Demut, zu erspüren, was ich mir selbst zumuten kann und was ich delegieren soll.
12. Strategien der Abgrenzung
Vom notwendigen Selbstschutz
„Jesus nimmt frei“
Jesus hatte seine Jünger ausgesandt, um die Menschen zur Umkehr aufzurufen, Dämonen auszutreiben und Kranke zu heilen. Die Jünger kehren von ihrem Auftrag zurück und berichten ihm voller Stolz, was ihnen alles gelungen ist. Man kann sich vorstellen, wie es aus ihnen heraussprudelt, und welches Chaos entsteht, weil jeder seine Großtaten erzählen möchte. Jesus zieht daraus die Konsequenz und sagt zu den Jüngern: „Kommt mit an einen einsamen Ort, wo wir allein sind, und ruht ein wenig aus. Denn sie fanden nicht einmal Zeit zum Essen, so zahlreich waren die Leute, die kamen und gingen. Sie fuhren also mit dem Boot in eine einsame Gegend, um allein zu sein.“ (Mk 6,31f)
Jesus entwickelt eine Strategie der Abgrenzung.
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