Grenzenlos ermitteln - 23 Raetsel-Krimis
Sonderfall
Am frühen Morgen prasselte Regen auf die Plastikplanen, die der Technische Dienst über der Fundstelle der Leiche gespannt hatte. Als Maxim Charkow den Tatort erreichte, waren die Temperaturen so stark gefallen, dass Schneeflocken von Zürichs grauem Himmel fielen, die, kaum erreichten sie das Kopfsteinpflaster des Uferwegs, sich in Eisbrei verwandelten. Charkow, leitender Ermittler der Abteilung für Kapitalverbrechen, kniete neben der Rechtsmedizinerin Francine Boviard im Gras und betrachtete die blasse Haut der toten Frau, deren nackter Körper vereinzelt von rotgelben Bergahornblättern bedeckt war. Er hatte den Eindruck, die Bäume entlang des Flussufers wollten die Frau vor den neugierigen Blicken der Passanten schützen.
»Schau mal«, sagte Francine und zeigte auf eine sternförmige Ritzung auf dem Oberschenkel der Toten.
»Selbst zugefügt?«, fragte Charkow.
»Könnte sein.«
Er erkannte, dass es sich dabei um den alten Sowjetstern handelte. »Wie alt schätzt du das Mädchen?«
»Noch keine Zwanzig. Ihr Körper weist mehrere prämortale Verletzungen auf. Auch im Genitalbereich.«
»Misshandlung und Zwangsprostitution«, war Charkow sicher. Er betrachtete die klaffende Wunde an der Kehle des jungen Mädchens. »Man hat sie wie Abfall einfach hier in die Uferböschung geworfen.«
Francine drehte die Tote auf den Bauch. Sofort fiel ihr das Tattoo über dem SteiÃbein auf. Sie säuberte die Stelle und versuchte es zu lesen. »Das ist Russisch.«
»Diese ScheiÃkerle!«
»Was heiÃt es?«, wollte Francine wissen.
»ÃpaÃibo ⦠danke auf Russisch.«
»Danke?« Francine brauchte einen Moment, um die Symbolik zu verstehen. »Was für Menschen sind das, die so etwas mit einer Frau machen?«
»Landsleute von mir.« Verbitterung lag in seiner Stimme. »Ich habe auch schon eine Ahnung, wer etwas über unsere Tote wissen könnte.« Er lief hinauf zum Uferweg, wo sein Dienstwagen stand. »Ruf mich an, wenn dir die Leiche mehr verraten hat«, rief er Francine zu, bevor er wegfuhr. Er hatte vor, Piotr Nowikow, dem Besitzer des SM-Nachtclubs Kalinin , einen Besuch abzustatten. Von ihm würde er am ehesten etwas über die Tote erfahren, da Nowikow ihm etwas schuldig war.
Charkow lenkte seinen Wagen über die vereisten ZufahrtsstraÃen. Anscheinend hatte der Räumungsdienst nicht mit Schnee im Oktober gerechnet und konzentrierte seine reduzierten Kräfte in der Innenstadt. Der Verkehr floss nur zäh. Und als bei einem Kreisverkehr eine Tram mit einem Lieferwagen zusammenstieÃ, weil sie auf den vereisten Schienen nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte, kam er ganz zum Erliegen. Charkow fluchte und lieà seinen Wagen stehen, um zu Fuà weiterzugehen. Es dunkelte schon ein, als er die Tür zum Kalinin öffnete. Nowikow unterhielt sich neben der Tanzfläche mit seinem Geschäftspartner Akim Kusmin. Als er Charkow sah, verstummte er und seine Mundwinkel verzogen sich, als ob er etwas Bitteres gegessen hätte.
Ohne Umschweife setzte sich Charkow zu den beiden und legte wortlos sein Smartphone vor ihnen auf den Tisch, auf dessen Display das Foto der Toten zu sehen war. Die beiden Männer betrachteten es gleichgültig.
»Du kennst sie«, sagte Charkow zu Kusmin, der beim Anblick der Toten für den Bruchteil einer Sekunde eine Regung gezeigt hatte.
»Wer soll das sein?«, fragte Kusmin sichtlich bemüht, sich nichts anmerken zu lassen.
»Das wirst du mir jetzt sagen.«
Kusmin zuckte mit den Schultern und sah Nowikow an. Dieser zögerte einen Moment lang, nickte jedoch.
»Also gut. Das ist ⦠war Galina.«
»Und wie weiter?«
»Nichts. Galina. Mehr nicht.«
»Hat sie für euch gearbeitet?«
Nowikow schüttelte den Kopf. »Du weiÃt doch, dass wir unsere Frauen gut behandeln.«
Charkow wusste, dass Nowikow nicht übertrieb. Er zahlte seinen Frauen regelmäÃig Lohn, Sozialleistungen und schickte sie einmal im Jahr zu einer Frauenärztin. »Dann verratet mir, für wen Galina gearbeitet hat.«
Nowikow seufzte. »Alexej Varenko hat dieses arme Ding ausgenutzt.«
»Varenko, der russische Botschaftsattaché?« Charkow war überrascht.
»Genau der. Nach auÃen ein charmanter und eloquenter Vertreter unseres Landes. Aber innen«, Nowikow schlug mit der Faust gegen
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