Grenzfall (German Edition)
folgen dem Zug auf den Friedhof. Sieben Erwachsene und drei Kinder.
Mattie zieht sie am Arm. Sie kann sich nicht losreißen von dem Anblick. Flüstern an ihrem rechten Ohr: »Nadina, ich rufe die Pastorin von unterwegs an. Ich fahre zu Adriana. Willst du mitkommen?«
Nadina schüttelt den Kopf. Sie bleibt hier.
»Alles in Ordnung?«
»Ja, ja.«
Mattie wirft ihr einen skeptischen Blick zu, dann verschwindet sie in Richtung Parkplatz. Nadina geht langsam um die Ecke. Der Trauerzug ist auf dem Friedhof angekommen. Sie folgt ihm bis an die Eingangstür. Die Pforte lässt sich aufdrücken. Sie will die Gesichter der Leute sehen. Dafür muss sie näher ran. Hinter den halbhohen Busch. Nah genug am offenen Grab. Gesine spricht auf Deutsch.
Nadina prägt sich das Bild ein. Auf der Beerdigung von Niculai L ă c ă tu ş waren zweihundert Leute. Aus der Fabrik, aus der Siedlung, sogar aus dem Heimatdorf seiner Großeltern. Sie haben geweint und Musik gemacht. Wie oft musste sie die Fotos angucken. Schwarzweiß. Mama hat ihr wieder und wieder die Geschichte erzählt. »Dein Papa war ein so schöner, wunderbarer Mann. Hätte ich euch nicht gehabt, ich hätte mich mit ihm ins Grab gestürzt.«
Niemand da drüben wird sich für Papas Mörder ins Grab werfen. Die Leute weinen nicht. Sie gehen weg. Ein paar Blumensträuße bleiben zurück. Zwei Männer schaufeln Erde auf das frische Grab.
Klick. Ein Foto im Kopf. Für Mama.
30. Juni 2012, Hansestadt Kollwitz
Der Raum für Besucher. Heute geht es ihr besser.
Noch ist sie am Leben. Adriana weiß, dass Liviu da ist. Um sie zu schützen. Er muss nicht selbst kommen. Die Frau mit dem Tablett bringt ihr sein Essen.
Meti ist da. Sie hat Papiere dabei.
»Das Fahrtenbuch?«
Sie schüttelt den Kopf. »Das ist in Sicherheit. Es liegt beim Anwalt im Safe. Tresor, verstehst du?«
»Vaters Fahrtenbuch. Eine alte Frau hat es gefunden. Zwanzig Jahre hat sie gewartet.«
»Hast du noch mehr davon?«
»Vom letzten Buch fünfzehn Seiten. Von Vater viele Fahrtenbücher zu Hause in Turnu Severin.«
»Er hat regelmäßig geschrieben?«
»Jedes Jahr. Für mich. Immer für mich.«
»Worüber hat er geschrieben?«
Niemand hat die Bücher angefasst, seit Vater gestorben ist. Das bringt Unglück. Bringt es Unglück? Kommt das Unglück, weil Adriana das letzte Buch gelesen hat? Oder war das Unglück zuerst da? Es war immer da. Immer bei ihnen. Adriana versucht sich an die Seiten zu erinnern, die sie in den letzten Tagen gelesen hat. »Er schreibt über sein Leben. Unser Leben.«
Meti schiebt ihr die Papiere über den Tisch. Keine Schrift. Fotos. »Erinnerst du dich an den Tag, als das Heim gebrannt hat?«
Natürlich erinnert Adriana sich. Sie nickt.
»War da auch so ein Polizeiauto wie an dem Morgen, als du mit Liviu zu dem Feld gefahren bist?« Endlich kapiert Meti. »Sieh dir das Foto genau an. Ist es dieser Wagen hier?«
Adriana muss nicht hinschauen. Sie erinnert sich genau, was sie gesehen hat, bevor sie in den Bus eingestiegen ist. Die Polizei will, dass die Ţigani verschwinden. Sie erschießen ihren Vater. Sie zünden das Heim an. »Verstehst du jetzt, Meti? Keine von uns sollen mehr kommen. Alle gehen fort. Wenn das Wasser bis zum Hals steht, geht man zurück zum Ufer, auch wenn da nur Hunger wartet.«
»Dieses Auto, Adriana? Bist du sicher?«
»Sicher.«
Meti ist aufgeregt. Sie weiß etwas. Sie sagt nichts, nimmt die Fotos weg. »Ich komme bald wieder, Adriana. Sehr bald.«
Ist gut, Meti. Adriana stellt keine Fragen. Das macht sie nie.
1. Juli 2012, B 109 südlich von Kollwitz
Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland
Nick ist wieder dabei.
Nach der Rückfahrt aus Frankfurt hat er sie am Bus abgesetzt und ist sofort weitergefahren. »Ich muss nachdenken«, lautete die Erklärung.
Wenn sie ehrlich ist, war sie enttäuscht. Die Nähe zwischen ihnen ist nicht echt. Nichts, worauf sie sich einlassen kann. Nick ist so wenig greifbar wie eine Windbö. Warum fällst du immer wieder darauf rein, Mattie? In dieser Nacht auf dem Parkplatz war sie froh, dass Quincy bei ihr war.
Allein in Kollwitz, die einzelnen Teile fügten sich nicht zu einem Bild. Sie flogen förmlich aufeinander zu. Der Jeep von Nordhaus Immobilien . Uwe Jahn. Jochen Wedemeier. Bei ihm laufen alle Spuren zusammen. Mattie hat ihn kurz auf der Beerdigung gesehen. Jedenfalls ist sie überzeugt, dass er es war. Ein Mann, der glaubt, immer auf der Gewinnerseite zu stehen. Es braucht eine Menge Druck, um so einen
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