Grenzfall (German Edition)
das nicht jemand anders machen?« Statt mitzukommen, steckt die sich doch in aller Seelenruhe eine Zigarette zwischen die Lippen. »Ist ja ekelhaft.«
Jetzt reicht’s aber. Gesine pflückt ihr die Zigarette aus dem Gesicht. Ab auf den Haufen damit. Das Mädchen starrt sie fassungslos an.
»Geht’s vielleicht heute noch? Oder soll ich das alles alleine aufräumen?«
Gemeinsam schaufeln sie den matschigen Müll in die Karre und von der Karre in den Müllcontainer an der Kirche. Die naheliegende Frage bleibt unausgesprochen. Sie wissen beide, wer hinter diesem feigen Anschlag steckt.
»Kümmere du dich um die Fotos. Ich muss noch mal los.« Die nötige Ruhe für die Trauerrede hat sie jetzt sowieso nicht.
In der Tür dreht Nadina sich um. »Das Schild. Was steht drauf?«
Gesine seufzt. »Einfach nur dummes Zeug.«
»Das stimmt nicht.« Sie verschränkt die Arme vor der Brust. »Ich will es wissen.«
Sie übersetzt es ihr. Das arme Ding.
Im Büro von Nordhaus Immobilien sitzt die Sonnenbanksüchtige. Sie arbeitet schon eine Ewigkeit für Wedemeier, wohnt aber selbst nicht hier in der Siedlung.
»Frau Matthiesen.« Sie kann den Blick kaum von ihren Fingernägeln losreißen. »Was kann ich für Sie tun?«
»Es geht um die Trauerrede für Uwe Jahn.« Gesine nimmt auf dem Stuhl für Kunden Platz. »Ich brauche ein paar Informationen.«
»Ach, der Jahn. Schreckliche Sache.« Der Sinn ihrer Worte erreicht die Augen nicht. »War ja eher ein Stiller. Wir haben kaum einen Satz miteinander geredet.«
»Könnten Sie mal für mich nachsehen, seit wann genau er hier in Kollwitz gearbeitet hat?«
»Na, wird wohl in Ordnung sein. Ihn kann das ja nicht mehr stören.« Gesine studiert das Namensschild auf dem Tisch. Frau Lüthje klappert mit den langen Nägeln auf der Tastatur. »Also soweit ich das hier sehen kann, war der Jahn schon bei Nordhaus, bevor unser Büro hier in den Ostseeterrassen aufgemacht hat. Tut mir leid, da müsste ich in der Hauptverwaltung nachfragen.«
»Sparen Sie sich die Mühe.«
Gesine fährt herum. Hinter ihr hat Jochen Wedemeier das Büro betreten. »Uwe Jahn war bis zu dem Jagdunfall auf Honorarbasis für unsere Jagdreisen-Agentur tätig. Danach hat die Nordhaus Immobilien GmbH ihn in Festanstellung übernommen. Die Jagdreisen haben wir aufgegeben.« Er macht eine wegwerfende Handbewegung. »Nicht rentabel.«
Sie hat nicht gewusst, dass Wedemeier auch Veranstalter dieser unglücklichen Jagdreisen war. Er ist hinter seine Mitarbeiterin getreten. Die Lüthje sitzt wie erstarrt vor ihrem Computer. Der Makler ist ein Machtmensch. Er tut nichts ohne Absicht.
Gesine ist seine zynische Ader zuwider. Und die Einschüchterungsmasche zieht bei ihr nicht. »Sie haben Jahn eingestellt, bevor er vom Vorwurf des Totschlags freigesprochen wurde?«
»Aber natürlich, Frau Matthiesen. Sie sind doch die Erste, die gern humanitäre Gründe ins Spiel bringt. Die Leute aus dem Dorf, sein eigener Jagdverband, alle haben den Mann fallen lassen, dabei war er weiß Gott genug gestraft. Ich wollte ihm eine Chance geben.« Jetzt legt er der armen Frau auch noch eine Hand auf die Schulter. »Nordhaus ist wie eine große Familie. Da hält man zusammen. Nicht wahr, Frau Lüthje?« Eine Warnung, ohne Zweifel.
Sie lächelt verkrampft. »Ja, Herr Wedemeier.«
Sein Blick richtet sich wieder auf Gesine. »Und als ich nach dem Brand des Heims das Projekt Ostseeterrassen gestartet habe, wurde Jahn hier Hausmeister. Ein paar Jahre später dann der Freispruch, woran ich im Übrigen nie gezweifelt habe. Ende gut, alles gut.«
Gesine steht auf, um mit dem Mann auf Augenhöhe zu sein. »Ja, und der Brand kam dann auch recht passend, nicht wahr, Herr Wedemeier?«
Sein Politikerlächeln gefriert. Gesine dreht sich um und verlässt das Ladenbüro. Erst als die Tür hinter ihr zugefallen ist, wagt sie einen Blick zurück.
Wedemeier hat sich nicht von der Stelle gerührt. Ohne die Augen von ihr zu wenden, zieht er sein Handy aus der Tasche.
Nun hat sie sich einen der mächtigsten Männer von Kollwitz endgültig zum Feind gemacht. Lieber Gott, steh mir bei.
29. Juni 2012, Nordhausen im Taunus
Hessen, Deutschland
BRD. Vor der Wende, als es noch zwei deutsche Staaten gab. Als Bonn noch eine Hauptstadt war. Ein Bungalow wie aus einem Science-Fiction-Film von Rainer Werner Fassbinder. Welt am Draht.
Mattie und Nick sitzen auf einem Sofa aus braunem Cordsamt. Silberne Deckenlampen, weiße Wände, Raumteiler aus orangenem
Weitere Kostenlose Bücher