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Grenzfall (German Edition)

Grenzfall (German Edition)

Titel: Grenzfall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Merle Kröger
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Englisch mit den Nutten, und Uwe guckte aus dem Fenster. Er suchte das Panorama ab. Ganz weit hinten sah er die Autobahn, dann musste auf dem Feld links daneben seine Jagd beginnen. Der Abendhimmel lag rötlich über dem weiten Land. Das Lachen der Mädchen klang wie der Sekt, süß und klebrig. Er fragte sich, ob Hajo das komplette Programm durchziehen würde. Bis zum Abschuss sozusagen.

28. Juni 1992, Szczecin
    Den ganzen Nachmittag hatte er darauf gewartet, dass sein Bruder wieder auftauchen würde. Nicu fühlte sich im Stich gelassen, warum hatte Ion nicht aufgepasst? Er selbst war hinter einen Pfeiler geflüchtet, als die Miliz kam, und hatte sich so unauffällig wie möglich verhalten. War einfach in einer Gruppe von Polen mitgelaufen, die lachend aus dem Zug stiegen. Ion dagegen hatte rumgebrüllt und versucht, durch die Polizeikette zu brechen. Sie warfen ihn zu Boden und legten ihm Handschellen an. Nicu hatte keine Ahnung, wie er allein nach Wüstenrot kommen sollte, wenn er überhaupt bis Deutschland kam. Und er musste dahin! Er wollte, dass alles wieder so war wie im letzten Jahr. Silvia würde endlich einsehen, dass es keinen anderen Weg gab.
    Die Dämmerung schien schon Stunden zu dauern. Sie wanderten an einer schnurgeraden Landstraße entlang. Die Sonne stand ihnen zuletzt rechts im Rücken, also liefen sie wohl nach Süden. Die Gruppe hatte sich aufgefächert, manche gingen allein, andere zu zweit. Nur nicht auffallen. Dennoch spürte Nicu die Blicke der Polen, die am Straßenrand ihre Stände abbauten. Misstrauisch versuchte er, in ihren Gesichtern zu lesen. Wie viele solcher Gruppen hatten sie schon gesehen? Kamen sie jede Nacht? Jede zweite?
    Es gab noch ein Problem. Auf dem Bahnhof hatte Ion ihm eröffnet, dass er sich als jemand anders ausgeben müsse, sobald sie die Grenze überschritten. Nicu war davon ausgegangen, er könnte da anfangen, wo er aufgehört hatte. Der Antrag auf Asyl interessierte ihn nicht, er wollte seine Arbeit in der Fensterfabrik und einen Schlafplatz. Doch ohne Asyl ging es nicht. Er brauchte einen neuen Namen, einen, den er sich im Schlaf merken konnte. Ihm wurde jetzt schon übel bei dem Gedanken an die endlosen Verhöre, die ihn erwarteten.
    Vor ihm lief Marius Voinescu. Selbst von hinten wirkte er entspannt, und das half Nicu, seine Angst im Griff zu behalten. Marius machte einen leichten Ausfallschritt nach links, um einer toten Taube auszuweichen, die am Straßenrand lag. Nicu hörte das Auto, bevor er einen Gedanken fassen konnte. Intuitiv sprang er nach vorne und zog Marius zurück, als der Geländewagen auch schon laut hupend vorbeidonnerte. Er war dunkelgrün. Wieder spielte sein Magen verrückt. »Miliz!«, rief er.
    Marius legte ihm schnell die Hand auf den Mund. »Sieh doch hin!«, rief er leise.
    Jetzt erst achtete Nicu auf den weißen Schriftzug hinten auf dem Auto. NORDHAUS.
    Marius’ harte Züge wurden freundlich. »Danke, Bruder«, sagte er schlicht.
    Nicu lächelte. Die Buchstaben »H-A-U-S« hatten sich in sein Bewusstsein eingebrannt, obwohl der Wagen längst außer Sicht war. Es war ein Wort, das er auf Deutsch gelernt hatte. Er wollte es wegblinzeln, und gleichzeitig wollte er es behalten. Sein geheimer Plan. Eines Tages würde er keine Häuser mehr für Winfried oder dessen Nachbarn bauen. Er würde sein eigenes Haus bauen. Er würde mit Silvia in seinem eigenen Garten stehen und Würste grillen.
    Nicu war es nicht so wichtig, ob seine Nachbarn Ţigani, Rumänen oder Deutsche waren. Seine Familie hatte keinen Einfluss unter den Clans in Bra ş ov. Der Großvater war Landarbeiter gewesen, dann musste die Familie wie viele andere vom Land in die Stadt ziehen. Sein Vater hatte Steine geklopft und Straßen über das Gebirge gebaut, ein mieser Job. Nicu konnte noch immer den trockenen Husten hören, dessen Klang seine Kindheit durchzogen hatte, bis sein Vater starb, mit nicht mal fünfzig.
    »Hilf dir selbst!«, hatte er zu Nicu gesagt. »Von unseren Leuten brauchst du keine Hilfe erwarten. Wir kennen keine der wichtigen Familien, für die sind wir Käfer. Wir haben kein Geld, um ihnen teure Geschenke zu machen. Geh und lerne was, in Rumänien braucht man sich nicht schämen, ein Arbeiter zu sein. Vor dem Gesetz sind wir alle gleich. Und danke Gott für deine helle Haut, mein Sohn.«
    In der Schule mischte er sich unauffällig unter die Rumänen. Kassierte auf dem Weg nach Hause regelmäßig Prügel von den Kindern aus seiner Siedlung. Bis Ion eine

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