Grenzfall (German Edition)
eigene Bande gründete und drohte, jeden umzubringen, der seinen Bruder anfasste. Ion ging nicht mehr zur Schule und baute Scheiße. Er landete im Knast, kam zurück, heiratete und zog weg. Nicu ging mit seinen rumänischen Freunden zur Metallfabrik und bewarb sich um einen Job. Den Bossen schien es egal zu sein, woher er kam. Sein Vater hatte recht gehabt.
Eine Zeitlang lief alles gut. Er arbeitete an der Stanzmaschine, heiratete Silvia und zog in die Strada Bucure ş ti, in die Wohnung neben Bogdan. Zwei Männer, zwei Familien. Keine Unterschiede. Dann kam die Revolution. Bewaffnete Truppen marschierten unter ihren Fenstern vorbei und fielen in seine alte Siedlung ein. Hütten brannten nieder, Leute wurden verprügelt. Die Fabrik wurde geschlossen. Verkauft. Und wieder geschlossen. Wieder verkauft. Auch wenn Nicu selbst schon fast vergessen hatte, wo er herkam, jemand anders hatte es nicht vergessen. Sie holten ihn direkt von der Maschine und gaben ihm seine Entlassungspapiere. Die Fortbildungen, die Überstunden, die er geschoben hatte – am Ende galten sie nichts. Er war wie alle hier auf der staubigen Landstraße gelandet.
Marius drehte sich um und nickte ihm kurz zu. Nicu war nicht entgangen, dass die anderen Männer ihn mit Respekt behandelten. Wahrscheinlich stammte er aus einer wichtigen Familie. Viele hier kamen aus dem Süden. Nicu hatte sich instinktiv an Marius gewandt, als er sich plötzlich allein auf dem Bahnhof wiederfand. Aber konnte er ihm trauen? Würde er als Gegenleistung für seine Freundlichkeit später teure Geschenke erwarten? Er beschloss, vorsichtig zu sein.
Das Gelände rechts von der Straße öffnete sich. Der Wald war durchbrochen von Sandpisten, die sich durch die Hügel zogen. Die Gruppe bog, den beiden Polen folgend, auf einen Waldweg ein, der durch einen Schlagbaum für Fahrzeuge gesperrt war. Nicu atmete schneller. »Ist das schon die Grenze?«, flüsterte er in den Rücken von Marius.
»Nein«, lautete die Antwort. Der Rest ging in ohrenbetäubendem Lärm unter. Ein Scheinwerfer schnitt durch die Dämmerung. Die Leute vor Nicu sprangen wie aufgeschrecktes Wild in die Böschung am Wegrand. Jetzt konnte er sehen, was da auf ihn zukam. Motorräder, eins, zwei, drei – mindestens fünf waren es! Die Fahrer trugen dunkle Kleidung und Helme. Schlamm spritzte unter den Rädern hervor. Nicu stand wie angewurzelt auf dem Weg. Er fühlte einen Schlag, dann nichts mehr.
Als er wieder denken konnte, lag er im Gestrüpp. Neben sich hörte er den Atem eines Mannes. »Wach auf, Mann!«, drang es heiser an sein Ohr. Marius hockte neben ihm. »Nicu, komm zu dir, es ist gut.«
»Was war das?«, keuchte Nicu in Richtung der Stimme. Kurze Stille, dann ein Glucksen. Lachte Marius etwa?
»Junge, wo lebst du denn? Hast du noch nie eine Motocross-Bahn gesehen?« Nicu befreite sich von den dornigen Ranken. Marius reichte ihm die Hand. »Hier fallen wir am wenigsten auf«, sagte er und half ihm zurück auf den Weg. Dann ging er weiter. Nicu folgte ihm, dankbar, dass er mit seiner Blamage alleine bleiben konnte. Eine Weile liefen sie schweigend den dunklen Pfad entlang. Dann war der Wald zu Ende. Vor ihnen führte ein Schienenstrang quer durch die Landschaft. Der helle Schotter leuchtete schwach im letzten Abendlicht. Hinter den Schienen ging es einen Steilhang hoch. Die Mitglieder der Gruppe rückten auf und standen dicht beieinander, wie eine Herde Schafe. Nicu konnte im etwas helleren Licht jetzt auch die beiden Polen ausmachen. Der Sohn zeigte auf das hohe Gras jenseits der Schienen. Dazwischen standen zwei Pfosten aus Holz. Nicu starrte ins Gegenlicht, bis seine Augen sich daran gewöhnt hatten. Der eine Pfosten war abwechselnd rot und weiß gestrichen, der andere rot, gelb und – schwarz! Sie hatten die Grenze erreicht.
»Hier warten wir!«, ging die Nachricht flüsternd durch die Gruppe. Die Leute entspannten sich. Nicu sah Marius etwas abseits auf einem Baumstumpf sitzen. Er hatte ein Notizbuch auf den Knien, hielt es geschickt so, dass das letzte Licht darauf fiel, und schien zu zeichnen oder zu schreiben. Als hätte er Nicus Blick gespürt, sah er hoch, lächelte und winkte ihn zu sich.
28. Juni 1992, Gemeinde Peltzow
Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland
Es war kurz vor Mitternacht. Um diese Jahreszeit, so weit im Norden, war immer noch Licht am Horizont. Uwe suchte angestrengt die Lichtung ab. Er hatte nie eine Brille gebraucht, doch in letzter Zeit war ihm aufgefallen, dass er in der
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