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Grenzfall (German Edition)

Grenzfall (German Edition)

Titel: Grenzfall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Merle Kröger
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habe ein Geburtstagsgeschenk für dich, Tochter.«
    Dann hatte er schnell aufgelegt. Unwillkürlich tasteten seine Finger nach dem kleinen Samtkästchen in seiner Jackentasche, um sich zu vergewissern, dass die Ohrringe noch an ihrem Platz waren.
    Trotz der Finsternis merkte Marius, wie seine Augen langsam anfingen, die Umgebung nach Kontrasten im Schwarz zu sortieren. Er stand immer noch auf dem Hügel, immer noch kamen erschöpfte Nachzügler an. Keiner ging mehr weiter. Der junge Pole kam als Letzter und redete flüsternd mit seinem Vater in ihrer Sprache.
    »Marius! Da unten! Siehst du?« Das war Nicu. Er sah es auch. In der Senke unter ihnen zeichnete sich dichter Baumbestand ab.
    »Ein Wasserloch.« Er spürte, wie schon das Wort in der Gruppe Bewegung auslöste. »Wir möchten dort gerne Wasser holen«, sagte er laut, in höflichem Ton.
    »Nein!«, schimpfte der alte Pole sofort. »Weiter! Geht weiter!«
    Keiner ging.
    Für einen Moment hörten sie nur den Wind, dann den Ruf eines Raubvogels. Und dann das tiefe Geräusch eines Motors, zwei Scheinwerfer. Marius kannte es nur zu gut, wie viele Nächte hatte er auf Parkplätzen verbracht, mit diesem Geräusch als Kulisse! Rechts neben ihnen donnerte in einiger Entfernung ein Lkw vorbei.
    »Die Autobahn!«, flüsterte Marius. »Dann ist es nicht mehr weit. Das Auto kommt erst um vier. Wer möchte, kann mit mir kommen, und wir holen Wasser für die, die es brauchen.«
    Der jüngere Pole sprach ein paar Brocken Rumänisch. »Ihr müsst gehen. Keine Pause. Keine Zeit für Wasser suchen.«
    »Nein«, antwortete Marius. Es ging dem Jungen nicht um ihre Sicherheit. Es ging um die Ehre, vielleicht wollte er auch einfach schnell wieder zu Hause sein. »Du gehst. Ihr könnt gehen. Wir kommen ohne euch zurecht. Euer Geld habt ihr ja.«
    Man hörte, wie die beiden sich flüsternd besprachen. Dann ein Rascheln im Getreide. Sie waren gegangen, ohne ein weiteres Wort. Marius sah schemenhaft, wie sich die Gesichter der Umstehenden ihm zuwandten. Da wusste er, wer nun die Gruppe anführte.

29. Juni 1992, Gemeinde Peltzow
    Für einen Moment schoss ihm die Vorstellung durch den Kopf, wie es wäre, wenn er die Leiter umstieße. Uwe stand unten und versuchte den absurden Gedanken zu vertreiben. Im ersten Licht des neuen Tages sah er, wie Hajo sich schwankend aus dem engen Hochsitz schob und sein Gewicht auf die Leiter verlegte. Sie war nur angelehnt.
    Jetzt oder nie. Hajo hatte den ganzen Flachmann leergemacht. Er könnte hinterher immer noch sagen, der Mann wäre betrunken gewesen.
    »Verflucht, kannst du das wackelige Ding nicht anständig festhalten!«, erklang es von oben. Reflexartig griff er nach der Leiter und hielt sie ruhig. Keuchend kam der Mann auf dem Boden an. »Müssen wir euch auch noch die grundlegenden Sicherheitsstandards beibringen?«
    Uwe schluckte. Wie viele Antworten war er dem Westler schuldig geblieben in den letzten Stunden? Er wusste es nicht mehr.
    Nicht mal die Ohren eines Hasen hatten sie entdeckt. Die Lichtung war wie leergefegt. Er ging schnell zum Iltis, den er auf dem Weg zum Hochsitz geparkt hatte, öffnete die Tür und stieg ein. Kurz darauf ließ sich sein Jagdgast auf den Beifahrersitz fallen.
    »Und?«, tönte es herausfordernd. »Hattest du genug Zeit, um dir zu überlegen, wo man hier jagen kann?« Uwe drehte den Zündschlüssel und knallte den Gang rein. Hajo hielt sich fest und hob die Stimme, um das Geräusch des Motors zu übertönen. »Ich sag dir nämlich eins. Hast du die Anzeige überhaupt mal gesehen, die Wedemeier geschaltet hat?«
    Wieder antwortete er nicht. Warum sollte er dem Mann auf die Nase binden, dass er sich Wild und Hund nicht leisten konnte? Der redete sowieso schon weiter, ohne Punkt und Komma.
    »Wedemeier muss mir das Geld zurückzahlen, wenn ich hier nichts schieße in seinem tollen Jagdgebiet. Vierhundert Mark, bar auf die Hand, plus die Reisekosten. Der wird sich freuen.« Er rieb sich die Hände, fast vermutete Uwe, in Vorfreude.
    Hatte Hajo tatsächlich vergessen, dass er in der Nacht zuvor einen Rehbock verfehlt hatte, der fünfundzwanzig Meter vor ihm stand? Doch wem würde Wedemeier wohl glauben? Seinem neuen Jagdpächter oder dem Kunden, dem er nicht nur Jagdreisen, sondern auch Häuser verkaufte. Für den spielt es keine Rolle, ob unsereins seine Arbeit verliert, dachte Uwe.
    Hajo sah auf seine silberne Rolex, die er anscheinend nicht oft genug zu Gesicht bekam. »Du hast noch genau drei Stunden«, brummte

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