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Grenzfall (German Edition)

Grenzfall (German Edition)

Titel: Grenzfall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Merle Kröger
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Sekunden später sah Nicu, warum Marius angehalten hatte. Vor ihnen schnitten die Lichter eines Autos durch das Dämmerlicht und erhellten einen mit Bäumen bestandenen Weg.
    Das musste der Wagen sein, der sie abholen sollte! Nicu wollte schon loslaufen, als Marius neben ihm auftauchte und ihn mit der Hand auf der Schulter unsanft zu Boden drückte. »Das sind nicht unsere Leute«, hörte er ihn flüstern.
    Nicu kniete im Feld, den Kopf auf Höhe der Ähren. Er fühlte sich wie gelähmt. Das Auto fuhr so langsam! Er konnte sehen, wie es zwischen zwei Bäumen zum Stehen kam. Es war ein Geländewagen.
    Grenzpolizei!, dachte Nicu. Diesmal irre ich mich nicht. Alles war umsonst gewesen, und er würde ohne einen Leu bei Silvia vor der Tür stehen. Sie würden die Wohnung räumen müssen. Nicu ließ sich tiefer zwischen das Getreide sinken. Im Liegen beobachtete er, wie Marius sich langsam auf allen vieren nach vorne schob, Zentimeter für Zentimeter. Dann richtete er sich auf, bis er gerade über die Spitzen der Halme hinaussehen konnte.
    Im selben Moment ertönte ein ohrenbetäubender Knall.

29. Juni 1992, Gemeinde Peltzow
    Hajo hatte einen pelzigen Geschmack auf der Zunge. Sein Herz raste. Zu viel Alkohol im Blut. Wann hatte er eigentlich zuletzt etwas gegessen? Vor dem Krimsekt? Nein, danach. In diesem schmuddeligen Zöllnerhof.
    Er sah auf die Uhr. Fast vier, und sie holperten immer noch durchs Gelände wie auf einer drittklassigen Safari. In Gedanken spielte er durch, wie er Jochen anrufen würde, wenn er erst wieder zu Hause im schönen Taunus saß. »Da müsst ihr aber noch ein bisschen üben bei euch im Osten!« Oder: »Hat das Wild vielleicht schon vor der Wende Ausreiseanträge gestellt?« Er würde klipp und klar sagen, dass die Sache vergessen wäre, wenn er sein Geld zurückbekam.
    Plötzlich wurde er aus seinen Gedanken gerissen, weil das Geruckel aufhörte. »Schwarzwild«, flüsterte der Ossi und öffnete langsam die Fahrertür. Hajo spürte den Luftzug und gleichzeitig die Enttäuschung darüber, dass er sein geplantes Telefonat nicht führen konnte, sollte er jetzt doch noch etwas schießen. Dann kam der Adrenalin-Kick. Er meinte es in den Ohren rauschen zu hören. Hajo griff nach seinem besten Stück und drückte die Tür so leise wie möglich auf.
    Er glitt aus dem Wagen und versuchte sich zu orientieren. Sie standen mitten auf einer schmalen Allee, am Rand eines Getreidefeldes. Der Weizen – oder war es Gerste? – stand hell in voller Reife. Am Horizont deutete sich ein Sonnenaufgang an, sie standen also in Richtung Osten. Irgendwo dort musste die Grenze verlaufen. Jahn oder wie er hieß deutete mit der Flinte ins Feld. Kein Zweifel, da bewegten sich schwarze Umrisse zwischen den Halmen.
    Ohne noch weiter durch sein Fernrohr zu sehen, legte er auf dem Dach des Jeeps an. Der andere schien zu zögern. Auf was wartete der denn noch? Da, jetzt konnte er wieder etwas sehen. Es bewegte sich.
    »Jetzt oder nie«, murmelte er und fühlte, wie Jahn neben ihm anlegte. Seine Bewegungen folgten dem Impuls zu langsam, der Alkohol war immer noch im Blut. Hajo hörte Uwes Schuss, da war wieder der schwarze Umriss. Abdrücken!
    Sein Finger betätigte den Abzug, und den Bruchteil einer Sekunde später wusste Hajo instinktiv, dass er diesmal nicht danebengeschossen hatte.

29. Juni 1992, Gemeinde Peltzow
    Seine Gedanken schnellten vorwärts. Uwe hatte nicht als Erster schießen wollen, und doch war sein Schuss vor dem von Hajo losgegangen. Als hätte der mit Verzögerung den Abzug gedrückt. Na wenn schon, er würde einfach behaupten, es war Hajos Abschuss. Schließlich hatte er extra dafür gesorgt, dass sie heute die gleiche Munition im Lauf hatten. Hajo würde im Zweifelsfall schon nichts sagen, der wollte doch nur seine Trophäe mit nach Hause nehmen.
    Im Kopf ging er die nächsten Schritte durch. Wenn sie sich beeilten, konnte er das Wild noch auf dem Zöllnerhof abkochen, bevor der Westler los musste. Dann die Abrechnung, nicht zu vergessen, für den Abschuss von Schwarzwild war die Prämie natürlich höher als bei einem Hasen. Er warf noch einen letzten Blick durch das Zielfernrohr. Da war doch was. Langsam nahm er das Gewehr herunter, um mit bloßem Auge einen besseren Überblick zu haben.
    Aus dem Feld erhoben sich Leute. Erst einer, zwei, dann immer mehr. Sie hielten die Hände über dem Kopf, wie im Krieg. Uwe wollte aufschreien, doch kein Ton kam aus seiner Kehle. Stumm sah er zu, wie die Gestalten auf

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