Grenzfall (German Edition)
ihn zukamen, langsam, wie in Zeitlupe.
»Abhauen!«, hörte er Hajo neben sich keuchen.
Seine Beine gehorchten, bevor der Verstand eine Entscheidung traf. Er warf das Gewehr auf den Rücksitz, zog sich hinter das Steuer, Tür zu, Zündschlüssel rechts rum. Eine Sandwolke wirbelte auf, als die Räder kreischend durchdrehten. Dahinter die Leute, schemenhaft durch den Sand zu sehen, die Sonne im Rücken. Keine Einbildung, zu wenig Schlaf, das konnte doch einfach nicht wahr sein!
»Fahr los.« Ein Befehl. Endlich wandte er den Blick zu dem Mann auf dem Beifahrersitz, der nach vorn durch die Windschutzscheibe starrte, als ginge ihn das Ganze nichts an. Feine Schweißtröpfchen glänzten auf seiner Oberlippe. »Reiß dich zusammen, Mensch!«, flüsterte er.
Er schaltete den Vorderradantrieb zu und drückte das Gaspedal durch, diesmal langsamer, der Sand gab die Räder frei, sie schossen auf die Allee. Und während sein Körper fuhr, schaltete, lenkte, den Blinker setzte, nahm in seinem Kopf ein Reim Gestalt an. Auswendig gelernt, Jägerprüfung, hundertmal vorgebetet: »Wie lautet des Jägers höchstes Gebot? Was du nicht kennst, das schieße nicht tot!«
Wie eine Dauerschleife tönten die Worte durch seinen Kopf und warfen ihr Echo hin und her, wieder und wieder.
29. Juni 1992, Peltzow
Adriana klappte die Sonnenblende herunter, die nur noch an einer Seite befestigt war. Innen befand sich ein kleiner Spiegel. Das Dämmerlicht gab ihren Zügen etwas Geheimnisvolles, das ihr gefiel. Die großen Augen, umrahmt von einer Flut dunkler Haare. Sie schüttelte leicht den Kopf. Liviu, der den Wagen fuhr, sah zu ihr herüber und pfiff anerkennend. Sie wusste, dass er wusste, dass sie kein Kind mehr war.
Ihre Mutter hatte sich Gott weiß wohin verabschiedet, seit der Vater weggefahren war. Sie lag da im Bett wie ein riesiger Fisch und wartete. Adriana blieb nichts anderes übrig als zu kochen, Brot zu backen, die Wäsche zu waschen und sich um die Brüder zu kümmern. Sie hatte es ein paarmal nicht zur Schule geschafft. Es war niemandem aufgefallen. Die Unterschrift ihrer Mutter ließ sich leicht nachmachen. Die konnte ja nicht mal richtig schreiben.
Vor der Mutter ekelte es sie, obwohl sie versuchte, es nicht zu zeigen. Wenn sie ihr morgens die Plastikschüssel mit Wasser brachte, damit sie sich waschen konnte, sah sie die hängenden Brüste durch den Stoff des Nachthemds. Dann kämmte sie ihr die dünn gewordenen Haare. Am Scheitel fielen sie am stärksten aus, jeden Morgen hatte Adriana büschelweise davon im Kamm. Bald würde die Mutter kahle Stellen auf dem Kopf bekommen. Am meisten störten sie jedoch die Augen. Sie waren tot. Tote Fischaugen.
Adriana unterteilte ihre eigenen Haare geschickt in drei Strähnen und flocht sich einen Zopf. Vater würde es so lieber mögen. Erst als sie fertig war, sah sie zu Liviu und lächelte. Sie hatte keine Angst, nachts allein mit ihm im Auto durch die Gegend zu fahren. Ihr Vater beschützte sie, selbst wenn er nicht da war. Niemand würde es wagen, sich mit Marius Voinescu anzulegen, niemand würde seine Tochter anfassen. Zumindest niemand aus Turnu Severin. Und Liviu war einer ihrer Nachbarn, nur ein paar Jahre älter als sie.
Draußen wurde es heller. Sie fuhren durch ein Dorf, ein hübsches stilles Dorf mit einem See. Eine Kirche ohne Turm. In so einem Dorf würde Adriana gerne leben. »Wie spät ist es?«, fragte sie Liviu. Der seufzte und sah auf die Uhr.
»Es ist fünf Minuten später als beim letzten Mal«, sagte er. »Sieben Minuten nach vier.«
»Wir sind zu spät«, stellte sie fest. »Kannst du nicht ein bisschen schneller fahren?«
»Nicht im Dorf«, antwortete Liviu, »wenn wir angehalten werden, gibt es Ärger.«
Adriana schwieg. Sie wusste, dass er recht hatte. Wäre ihr Vater da gewesen, hätte er niemals erlaubt, dass sie mitfuhr. Diese Touren waren nicht ungefährlich, denn wer seinen Leuten half, illegal über die Grenze zu gehen, galt als Menschenhändler. Adriana faszinierte dieses Wort. Menschenhändler. Einer der mit Menschen handelte wie mit Vieh. Ein gruseliges Wort. Es passte nicht zu Liviu, der neben ihr saß und eine alte Melodie vor sich hin pfiff.
Sie musste ihm ein selbstgebackenes Brot versprechen, damit er sie mitnahm. Das war seine Schwachstelle. Seine Eltern waren in Turnu Severin, zu alt, um nach Deutschland zu kommen, und eine Frau hatte er noch nicht. Er aß nur das, was er von seinen Gutscheinen in dem kleinen Laden neben dem Heim
Weitere Kostenlose Bücher