Grenzfall (German Edition)
kaufen konnte. Die hatten da nicht mal frisches Brot.
Die Straße machte eine scharfe Rechtskurve. Adriana sah unter sich die Autobahn. Plötzlich riss Liviu das Steuer herum und wich im letzten Moment einem entgegenkommenden Wagen aus. In der Einfahrt eines Feldwegs kamen sie zum Stehen.
»Verdammt, das war knapp!« Liviu hielt immer noch das Lenkrad fest. Direkt vor der Windschutzscheibe hing eine Brombeerranke. Die Früchte waren schon dran, noch grün.
»War das Polizei?«, fragte Adriana leise.
»Ich glaube schon.« Liviu startete den Wagen wieder und setzte zurück. »Die Grenzpolizei fährt solche Jeeps.«
Adriana merkte, wie Angst in ihr aufflammte. Wenn sie die Gruppe nun erwischt hatten?
Sie waren wieder auf der Straße. Liviu fuhr noch langsamer und ohne Licht.
»Wo ist der Treffpunkt?« Sie reckte sich auf dem Sitz, als könnte sie dadurch weiter sehen. Vor ihnen erstreckte sich ein Sandweg zwischen Bäumen. Noch ein paar Häuser, dann kam links ein Feld. Rechts sah sie ein Waldstück, davor eine Wiese. Dort stand jemand an der Straße und winkte!
Adriana war aus dem Wagen, noch bevor er stand, suchte die Menge ab, sah ihn nicht gleich. Jemand rief etwas, deutete auf das Feld. Sie rannte los, hinein in das Getreide, ihre Stiefel zertraten die Halme. Sie konnte nichts sehen, die Sonne ging auf und blendete sie. Da war eine Lücke im Getreide, da vorn!
Auf den letzten Metern stolperte sie und fiel hin. Was war denn los? Warum hockte er da? Warum war er nicht bei den anderen? Da war noch einer, sie hörte sein Stöhnen. Bestimmt war er krank, und Vater war bei ihm geblieben. Erleichtert rappelte sie sich auf und schoss vorwärts. Griff nach der Hand mit der Armbanduhr. »Vater!«
Sie fuhr zurück. Der Kopf, da stimmte was nicht. Die Hälfte seines Kopfes fehlte! Sie drehte sich um, als suche sie danach, erblickte den zweiten Mann. Aus seinem Mund lief Blut, er sah sie an, oh Gott, er sah ihr direkt in die Augen!
Sie schrie, schrie, schrie, bis sie keine Luft mehr bekam und die Beine unter ihr wegsackten. Sie fiel zwischen das Korn, immer noch hörte sie ihre eigene Stimme, doch sie fühlte nichts mehr. Ihre Augen sahen nur noch Halme, ein Meer von Halmen. Darin ertrank sie.
37 TAGE DANACH
5. August 1992, Harmsdorf
Schleswig-Holstein, Deutschland
Madita Junghans schloss das hölzerne Garagentor. Die Enttäuschung steckte ihr noch wie ein dicker Brocken im Hals. Von wegen Geschenk zum Abitur. Ein Trip nach London, der dann nur den Zweck hatte, dass Tim mit seinen Kumpels das Freundschaftsspiel gegen England sehen konnte. Als hätten sie nicht den halben Sommer vor dem Fernseher verbracht. Europameisterschaft. »Madita, könntest du noch mal ein Bier – danke, Schatz!«
Auf dem Campingplatz Schlägereien zwischen deutschen und englischen Fans. Mittendrin ihr Freund, besoffen, grölend. »Man wird ja wohl mal die Sau rauslassen dürfen!« Er war ihr vorgekommen wie ein total Fremder. Ein fremder Idiot.
Tim lenkte den VW-Bus langsam rückwärts in den Carport, den er letzten Winter gebaut hatte. Obwohl sie von hinten nicht in den Wagen hineinsehen konnte, wusste Madita genau, wie er das machte: ein Blick in den linken Außenspiegel, dann in den rechten, dann einen halben Meter zurück, die rechte Hand am Steuer. Endlich war er fertig, sie öffnete die Schiebetür des Busses, schnappte sich die nächstbeste Tasche und ging wortlos vor ins Haus. Betrat das gemeinsame Wohnzimmer, alles Holz, die Möbel natürlich selbstgebaut – »wir fahren nie, niemals zu Ikea« –, dazwischen helle Baumwolle, naturgebleicht. War das wirklich ihr Zuhause?
Das große Fenster des Bootshauses ging raus auf den See, strahlend blauer Himmel, Boote, eine leichte Brise. Harmsdorf am See. Besuchen Sie uns bald wieder im Luftkurort.
Madita ließ die Tasche fallen, wo sie stand. Tims Mutter hatte die Post auf den Tisch gelegt. Wie praktisch, eine Mutter zu haben, die nach der Post sah, die Blumen goss und sonst weiter nicht nervte. Frauke lebte ihr eigenes Leben und war für ihren Sohn wie eine Freundin. Madita konnte sie nicht leiden.
Ein paar Briefe, einer an Madita mit der Lohnsteuerkarte. Sie war jetzt fertig, ein fertiger Mensch, der ins Leben trat. Welches Leben? Daneben der Spiegel , den sie abonniert hatte, eins der wenigen Dinge, die ihr gehörten in diesem Haus. Tim brauchte einen Monat, um eine Zeitschrift zu lesen. Das Orange des Covers wirkte irgendwie obszön in all dem Holz und Beige.
Madita öffnete
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