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Grenzfall (German Edition)

Grenzfall (German Edition)

Titel: Grenzfall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Merle Kröger
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die Tür zur Terrasse, klappte einen Liegestuhl – aus Holz mit Leinenbezug – auf und setzte sich rein.
    Sie kommen, ob wir wollen oder nicht! Schon wieder eine Titelstory über Asylbewerber. Sie blieb an einem Kasten hängen und begann zu lesen.
    »Musst du immer alles fallen lassen, wo du gehst und stehst?« Tim konnte das nicht leiden, deswegen machte sie es ja.
    »Komm mal raus!« Ihre Gedanken waren bei der Geschichte, die sie gerade gelesen hatte. Tims hochgewachsene Gestalt erschien in der Terrassentür. »Weißt du, wo Kollwitz liegt?«
    Tim kam näher. »Kleine Hansestadt, kurz vor der polnischen Grenze. Gute Wellen, angeblich.« Das waren die zwei Themen, die ihn wirklich interessierten: die Hanse und die Wellen. Ein Wunder, dass er noch nicht auf dem Brett stand nach einer Woche Abstinenz.
    »Da hat wieder ein Asylbewerberheim gebrannt. Man vermutet, dass es Streit gab und Anwohner die Brandsätze geworfen haben. Die Polizei ist erst Stunden später aufgetaucht. Und nur weil zufällig ein Team da war, das eine Reportage für den Spiegel …« Sie hielt ihm die Zeitschrift hin.
    Tim warf einen kurzen Blick darauf. »Sind das Zigeuner?«
    Madita starrte ihn an. »Und du bist Arier? Nennt man das so?«
    Tim verdrehte die Augen. »Du weißt, wie ich das meine. Wie soll ich die denn sonst nennen?«
    »Die wurden dann abtransportiert. Man konnte nicht mehr für ihre Sicherheit garantieren, heißt es.«
    Tim sah sie an. Madita wusste, dass er nichts lieber wollte als das Thema wechseln. Sie zählte lautlos bis drei und hielt ihn mit den Augen fest. Kein Entkommen.
    »Aber du weißt doch gar nicht, was da genau abgelaufen ist!« Tim hatte Verständnis für seine Brüder und Schwestern von der Hanse. »Stell dir mal vor, hier würden plötzlich Hunderte von diesen Leuten wohnen. Bei uns nebenan. Die sehen anders aus, die haben andere Sitten und Gebräuche –«
    Madita war aufgesprungen, so heftig, dass der Liegestuhl umkippte. »Dann zeig ich dir mal was!« Schon war sie an ihm vorbei, zog die Leiter im Flur herunter.
    Auf dem Spitzboden war es staubig. Ihre Kisten, voll mit Dingen, für die es hier keinen Platz gab. Mitgebracht und nie ausgepackt. Da war es. Ein verstaubtes Porträt in Schwarzweiß. Sie war vielleicht zwölf, dreizehn, trug die Haare noch lang. Ihr Vater Hinnarck, also Emmas Mann, nicht ihr biologischer Vater – ach was soll’s –, hatte das Foto machen lassen, als das neue Fotostudio in Harmsdorf eröffnete. Madita kam gerade vom Ballettunterricht. »Mach doch die Haare auf, Deern!«, sagte er zu ihr, als sie verkrampft auf dem Stuhl des Fotografen herumrutschte. »Sonst siehst du so indisch aus.« Typisch Hinnarck.
    »Willst du Spaghetti Carbonara oder Bolognese?«, rief Tim aus der Küche, als sie wieder ins Wohnzimmer kam.
    »Ich will, dass du dir das ansiehst!«, rief Madita zurück.
    Er kam und wischte sich die Hände an einem Geschirrhandtuch ab. »Was hast du da oben gemacht?«
    Sie hielt ihm ihr Bild vor die Nase und zeigte auf den Spiegel . Der Fotograf hatte den Abtransport der Roma dokumentiert. Direkt an der offenen Bustür, kurz vor dem Einsteigen, stand ein Mädchen, die Haare offen. Sie hielt mit beiden Händen eine Plastiktüte umklammert und fixierte einen Punkt hinter der Kamera. Ihr Gesicht war eine ausdruckslose Maske.
    »Die sehen anders aus als du, Tim Helling. Aber nicht als ich. Alles eine Frage der Perspektive.«

INTERMEZZO
    Zwei Wochen später gingen die Bilder des brennenden Wohnheims für vietnamesische Vertragsarbeiter in Rostock-Lichtenhagen um die Welt. Vier Tage lang tobte der Mob. Die Anwohner applaudierten.
    Acht Wochen später zog Madita Junghans nach Hamburg. Die Beziehung zu Tim Helling dümpelte noch eine Weile vor sich hin und wurde dann in gegenseitigem Einvernehmen beendet.
    In einer Umzugskiste, die sie nie auspackte, befanden sich neben einem gerahmten Porträt von Madita ein paar zerknitterte Seiten aus dem Spiegel .
    Das Mädchen auf dem Foto, das darauf wartete, in den Bus zu steigen, hieß Adriana Voinescu, vierzehn Jahre und zweiundfünfzig Tage alt. Auf die Plastiktüte, die sie in der Hand hielt, war der Slogan einer Supermarktkette gedruckt, die im Sommer 1992 sechsundzwanzig Filialen in den neuen Bundesländern eröffnete.
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ZWEITES BUCH

3. Juni 2012, Gut Westenhagen
Schleswig-Holstein, Deutschland
    »Madita!«
    Emma ist nun die Letzte, die sie bei ihrem richtigen Namen nennt. Harte Schatten – hell, dunkel,

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