Grenzfall (German Edition)
hell, dunkel. Sie bremst ab. Die Allee aus Linden hat ihr Blätterdach über dem Weg fast geschlossen. Der Duft der Blüten zieht aufdringlich durch das offene Fenster und lässt sie an unendlich lange Kindheitstage denken, trotz des Sommers am See überschattet von einer matten Traurigkeit, die alles mit einem grauen Schleier überzieht. Da vorne steht die kleine Figur und winkt.
Mattie Junghans schaltet in den Leerlauf und lässt den Wagen rollen. In ihrem Bauch streitet der jäh einsetzende Schmerz um Hinnarck mit dem Déjà-vu ihrer winkenden Mutter. Ein Lachkrampf bahnt sich seinen Weg und treibt ihr die Tränen in die Augen. Emma hat den größten Teil ihres Lebens damit verbracht zu warten. Menschen treten in ihrem Dasein auf und ab wie in einem Filmset. Titelmelodie: Ein Schiff wird kommen von Nana Mouskouri. Emma führt Regie und ist gleichzeitig das Publikum. Aber das Kino ist fast leer. Nicht mal Hinnarck sitzt mehr neben ihr und hält die Popcorntüte.
Die Allee öffnet sich, das Gutshaus liegt überirdisch angestrahlt vor Mattie. Ein Investor hat es aus der Erbmasse des letzten Grafen von Westenhagen gekauft und in ein Seniorenheim umgewandelt. Landhausstil, funkelnder Kronleuchter in der Eingangshalle, Friseur, Aquafit. Jedoch die Flure wie leergefegt von Personal, das hechelnd Zwölfstundenschichten in Minimalbesetzung schiebt, der Geruch nach dem nahen Tod nur stellenweise überdeckt von Airfresh Marke Pfirsich. Hinter dem Gutshaus dreht sich ein Windrad. Erinnerungen prasseln auf sie ein, fünf Jahre ist es her, dass Mattie hier mit Nick und Cal …
Emmas Kopf taucht unten im Fenster des Transporters auf. »Madita, du wolltest doch um elf kommen!« Demonstrativ sieht sie auf ihre Armbanduhr, die schon seit Jahren nicht mehr geht, weil Emma sich weigert, sie abzunehmen. Hinnarck durfte die Batterie nicht auswechseln.
Der Van ist hoch, und Mattie starrt von oben auf den Haaransatz ihrer Mutter. Die mausgraue Farbe ist einem frischen Kastanienton gewichen. »Hast du dir die Haare färben lassen?« Sie macht den Motor aus und lauscht einen Moment in die Stille, bis der schleppende Tonfall von Emma wieder einsetzt.
»Schwester Lisa sagt, ich habe ein hübsches Gesicht.«
Gut gemacht, Lisa. Emma kriegt man nur zu fassen, wenn man noch berechnender ist als sie. Mattie steigt aus dem Wagen. »Hast du dem Hausmeister Bescheid gesagt?«
»Ja.« Emma guckt an ihr vorbei, und Mattie weiß, dass sie lügt. Sie mag den Hausmeister nicht, und es ist ihr egal, wie ihre Tochter die Möbel in den Keller kriegt.
Eine halbe Stunde später lässt sie sich keuchend auf Emmas ordentlich gemachtes Bett fallen. Das kleine Apartment mit eingebauter Küche hat einen weiten Blick über die Allee und den Teich. Emma sitzt in ihrem Sessel am Fenster, raucht eine Zigarette und beobachtet die tägliche Anlieferung der Wäsche. Sie wirkt zufrieden und entspannt, nicht wie eine trauernde Witwe.
»Wann fährst du weg?«, fragt sie, kaum dass Mattie sitzt. »Um zwölf gibt es Mittag.«
Mattie lacht auf. Das bedeutet nicht, dass Emma sie einlädt, mit ihr mittagzuessen, sondern dass sie vor dem Essen wieder verschwunden sein soll. Routine ist alles in Emmas Welt, nur so bleibt sie halbwegs im Gleichgewicht. Hinnarcks Tod hat den Rhythmus gestört, doch nun hat sie einen neuen gefunden. Mattie gibt sich einen Ruck. Lieber früher als später …
»Emma, du kannst hier nicht bleiben. Das Geld aus dem Hausverkauf hat gerade gereicht, um die Hypotheken zu bezahlen.«
Emma wendet nicht mal den Blick vom Fenster ab. »Hinnarck hat gesagt, ich soll hierhin«, sagt sie leise.
Mattie seufzt. »Hinnarck wollte mit dir zusammen hier leben. Du wolltest nicht.« Vor fünf Jahren hatte der erste Schlaganfall ihn erwischt, ein paar Tage vor Matties geplantem Abflug nach Bombay. Wochenlang pendelte sie zwischen ihrem Elternhaus und der Reha-Klinik, bis er wieder so weit auf den Beinen war, dass er seine Angelegenheiten selbst regeln konnte. Eine Pflegerin wurde eingestellt, die für ihn und Emma sorgte. Dann eine zweite. Dann noch ein Schlaganfall. Emma weigerte sich, ihren über Jahrzehnte angestammten Platz am Küchenfenster des Hauses in Harmsdorf am See zu verlassen. Hinnarck hätte sie nie zu irgendwas gezwungen. Er pflegte Emmas Psychosen wie ein hingebungsvoller Gärtner. Den unausweichlichen Konflikt hinterließ er seiner Tochter Madita. »Es ist zu teuer. Hinnarcks Rente reicht nicht.«
Emma starrt sie an. »Du willst mich
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