Grenzfall (German Edition)
bestrafen. Hinnarck und du. Immer habt ihr hinter meinem Rücken geredet. Wegen dem Inder –«
»Schluss jetzt!« Mattie steht auf. »Hinnarck ist tot. Und dein Inder kommt auch nicht wieder.« Hofft sie jedenfalls. Sie hat genug von Anand Kumar, mit dem Emma eine Affäre hatte, anno dazumal. »Ich sag dir Bescheid, wenn ich einen anderen Platz für dich gefunden habe.«
Ohne den starren Blick ihrer Mutter weiter zu beachten, nimmt sie ihre Tasche und geht. Für heute hat sie genug. Soll sich Schwester Lisa mit dem kommenden Anfall herumschlagen. Emma wird in Kürze komplett durchdrehen, so viel ist klar. In solchen Momenten zieht sie alle Register. Man wird Mattie zureden, ihre Mutter auf keinen Fall ein weiteres Mal zu verpflanzen, wenn sie ihre geistige und körperliche Gesundheit nicht ernsthaft gefährden will.
Sie fährt auf die Bundesstraße in Richtung Kiel, der schnellste Weg nach Hause zu Kamal. Die Kung-Fu-Schule im Gewerbegebiet ist ihr Shaolin-Kloster. Hier hat sie Aufnahme gefunden, als sie zwischen den Kliniken herumirrte wie ein verlorenes Huhn. Hier konnte sie ihren Geist beruhigen, indem sie ihren Körper an die Grenzen trieb. Und hier lebt Kamal Assadi, Kung-Fu achter Dan, zum Glück kein Mönch. Ein Mann, der sie immer wieder in die Selbstbeobachtung treibt, eine Wohltat nach den wirren Jahren mit Nick und Cal. Hier kann sie auftanken, in den Wintermonaten, wenn sie nicht mit ihrem Wanderkino die Küste entlangzieht. Zog, besser gesagt.
Denn damit ist es jetzt vorbei. Wenn Emma hundert wird, was für Mattie feststeht, dann muss sie sich jetzt eine anständige Arbeit suchen und neunundzwanzig Jahre lang malochen, bis sie siebenundsechzig ist.
3. Juni 2012, nördlich von Zaragoza
Aragonien, Spanien
Adriana Voinescu Ciurar steht auf dem höchsten Punkt des Dorfes und sieht hinunter auf die Plantagen. Das Grün in der Nähe des Flusses verliert sich nach und nach in helleren Brauntönen, die in die weißen Häuser des Dorfes übergehen. Am Himmel kreisen zwei Geier, ihr Geschrei übertönt sogar das Gerede der Frauen hinter Adriana. Ein uraltes Dorf, weiter unten wohnen die Spanier, oben die Gitanos. Im Sommer vermieten sie ihre alten Häuser an die Erntearbeiter aus dem Osten.
»Adriana, Schwester.« Die alte Pilar hat sich angeschlichen, ohne dass sie es gemerkt hat. Wie immer in Schwarz, aufrecht, Augen wie die Geier über ihr. Sie erinnert Adriana an die Großmutter.
»Wie lange wollt ihr bleiben?« Sie vergeudet keine Worte, Pilar.
»Du weißt doch, wir warten auf die Verträge.« Jeder weiß es. Alle warten. Es ist ihr zehnter Sommer hier in Spanien. Sobald in Rumänien der Winter vorüber ist, fahren sie los. Sie würde die drei Töchter lieber mitnehmen, aber Florin sagt, sie brauchen nur Platz, das kostet Geld, sie können noch nicht mitarbeiten. Also bleiben sie bei Adrianas Mutter in Turnu Severin. Sie telefoniert einmal am Tag mit Lili, ihrer Ältesten.
Jedes Jahr haben sie die Verträge bekommen. Der Mann von der Plantage geht von Haus zu Haus, guckt sich die Arbeiter an. Erst der Vertrag für die Äpfel, dann die Birnen, und wenn sie Glück haben, noch die Mandeln. Genug Geld, um in Rumänien über den Winter zu kommen.
»Er wird nicht kommen«, sagt Pilar.
Adriana will ihren Blick nicht von der Ferne auf die Enge der Straße wenden. Schließlich dreht sie sich doch um. Vor den Häusern sitzen sie. Rauchen. Warten. Frauen und Männer. Ganz hinten, vor ihrem Haus, Florin zusammen mit Liviu und dessen Schwager. Sie überlegt, was sie Pilar antworten soll, die sie fixiert.
»Wie lange habt ihr gearbeitet?« Sie spricht langsam, wie zu einem Kind, um sicherzugehen, dass Adriana sie versteht.
»Einen Monat.«
»Einen Monat, jeden Tag zehn Stunden. Warum sollen sie die müden Arbeiter nehmen, wenn sie frische haben können?«
»Wir haben immer gut gearbeitet. Sie kennen uns.«
Die Alte lacht. »Sie können Spanier haben für das gleiche Geld. Es ist Rezession. Und von euch kommen auch immer mehr.«
Adriana merkt, wie sich trotz der Hitze eine Gänsehaut auf ihren Armen bildet. »Wann brauchst du meine Antwort?«, fragt sie.
»Morgen«, antwortet Pilar. »Es sind welche aus Ungarn gekommen, eine große Familie. Sie mussten ihr Dorf verlassen. Sie wollen das ganze Haus mieten.«
Adriana lässt Pilar stehen. Sie fühlt die Blicke von beiden Seiten. Niemand wird ihr etwas ansehen. Sie hat gelernt, ihre Gefühle zu verschließen. Sie hebt die Unterkante ihres Rocks, damit sie
Weitere Kostenlose Bücher