Grenzfall (German Edition)
schneller laufen kann. Die Absätze ihrer Stiefel knallen auf die Pflastersteine. Florin und Liviu sind am Auto und bemerken sie nicht. Sie läuft schneller, die Dorfstraße entlang. Bergab, immer weiter.
Zwischen den Apfelbäumen macht sie Pause. Tief Luft holen. Da hängt noch ein Apfel am Baum, vergessen bei der Ernte. Erst als sie schon reingebissen hat, wird ihr klar, dass sie gerade gestohlen hat. Angewidert wirft sie die überreife Frucht ins Gras. Wer keinen Vertrag hat, darf nicht von den Früchten essen.
Es ist Mittagspause. Gedämpftes Lachen dringt an ihr Ohr. Das sind die Bulgaren, weiter unten am Fluss. Sie geht wieder schneller. Gut, dass sie Stiefel trägt, wegen der Schlangen. Sie lässt den Lastwagen mit den Obstkisten durch, der Fahrer winkt ihr zu. Sie kennen uns.
Weiter zum Fluss. Das ist ihre Stelle. »Unser Pool«, haben sie diesen Ort im ersten Sommer getauft. Hier hat sie unzählige Mittagspausen verbracht, sich abgekühlt, gegessen, ihre Wäsche gewaschen. Noch hat niemand den Platz erobert, doch lange wird es nicht dauern, wenn sie erst fort sind, auf dem Weg zurück nach Rumänien, mit nicht mal einem Drittel des Geldes in den Taschen.
Adriana zieht die Stiefel aus, hebt den Rock höher und geht bis zu den Knien ins Wasser. Es ist noch nicht zu warm im Juni. Sie beugt sich vor und betrachtet sich. Vierunddreißig Jahre, keine Falten, es ist gut, wenn man nicht so dünn ist. In der Verzerrung des Wassers wirkt es dennoch fremd. Ein Gesicht, in dem die Traurigkeit zu Hause ist, nicht das Lachen. Sieht sie ihrem Vater ähnlich? Sie kann sich kaum erinnern, wie er aussah.
Sie taucht die Hände ein und spritzt sich Wasser ins Gesicht. Gedankenstopp. Sie will nicht daran denken. Niemand will das. Sie sprechen zu Hause nicht davon, das bringt Unglück. Doch manchmal ist es anstrengender, nicht daran zu denken. Die Erinnerung verschwindet, das beunruhigt sie.
Als Adriana die steile Böschung hochsteigt, spürt sie die Schwere ihrer Beine. Sie will jetzt noch nicht den Berg hinaufgehen. Es ist zu heiß. Sie legt sich in den Schatten der tief herabhängenden Weide und schließt die Augen.
Zum ersten Mal seit vielen Jahren hat sie wieder den Traum. Sie steht zwischen den Bäumen am Rand des Feldes, durch das Getreide weht der Wind. Plötzlich erhebt er sich aus dem Feld, sie lacht. Vater kommt zurück. Er ruft ihr etwas zu: »Ich bin es nicht!« Sie lacht. Natürlich ist er es! Er breitet die Arme aus. Sie rennt auf ihn zu. Doch bevor sie ihn erreicht, versagen ihre Beine, der Boden unter ihr gibt nach. Und schon liegt sie im Feld, zwischen den Halmen, allein.
Adriana genießt für einen Moment die orangefarbene Wärme auf den Lidern, dann öffnet sie die Augen und lässt die Wirklichkeit Stück für Stück in ihr Bewusstsein einsickern. Das harte Sonnenlicht. Die Stimmen der Bulgaren. Keine Verträge. Kein Holz für den Winter.
Warum ist der Traum zurückgekehrt? Sie empfindet ihn wie eine Folter, Vater ist lange tot, nichts kann ihn wieder lebendig machen. Der Traum raubt ihr die Kraft. Sie setzt sich auf und streckt die Schultern. Versucht den Traum abzuschütteln.
Vielleicht liegt es daran, dass Liviu gestern angekommen ist. Er hat ein Auto für Florin gebracht, der seins zu Beginn des Sommers verkaufen musste, um die Miete zu bezahlen. Liviu verbringt den Sommer auf den Autobahnen, überall aus Europa rufen ihn die Leute an, wenn einer ein Auto braucht. Er ist ehrlich, seine Hände können selbst einem Wrack noch Leben einhauchen. Livius Familie ist diesen Sommer in Berlin, weil sie aus Frankreich verschwinden mussten. Man hört, dort lässt es sich ganz gut leben.
Adriana ist wütend. Die Wut ist ihr Begleiter, seit sie denken kann. Liegt ein Fluch über ihrer Familie? Was will Vater ihr sagen? Der Polizist hat ihn abgeschossen wie ein Tier. So oft hat sie daran gedacht, wie es wäre, den Mann zu töten. In endlosen Nächten, in denen sie nicht schlafen konnte vor Angst, dass die Mutter sich das Leben nimmt. Vom einen Paar Stiefel zum nächsten ist das Messer gewandert, und jedes Mal hat sie es geschliffen, so scharf sie konnte. Ist es das, was Vater will?
4. Juni 2012, Kreuzberg
Berlin, Deutschland
»Nikolaus!«
Er hat sich immer noch nicht dran gewöhnt. Jasmin besteht darauf, ihn bei seinem richtigen Namen zu nennen. Vielleicht will sie damit einen klaren Strich unter seine Vergangenheit ziehen. Seine Frau ist die geradlinigste Person der Welt.
Nick Ostrowski sitzt auf der
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