Grenzfall (German Edition)
Wedemeier darüber zu sprechen, wenn der nicht gerade damit beschäftigt ist, Bürgermeister zu werden.
Gesine schließt die Haustür des Pfarrhauses auf, betritt den Flur und zieht die nasse Jacke aus. Sie streift die Schuhe ab, schlüpft in die Filzpantoffeln und drückt die Wiedergabetaste des Anrufbeantworters. Felicitas mit ihrem wöchentlichen Pflichtanruf, sie meldet sich immer dann, wenn sie sicher sein kann, dass Gesine in der Schule ist. Dem Kleinen geht es gut, und selbst kann man auch nicht klagen.
Gesine gähnt. Dann geht sie in die Küche und schaltet den Wasserkocher ein. Was unterscheidet sie denn schon von Uwe Jahn? Ihre Tochter wird ihr immer fremder, seit sie mit einem Mann verheiratet ist, der sich ausschließlich für Solarenergie interessiert. Felicitas geht es gut, sie hat alles, was sie braucht. Wenn sie ehrlich ist, findet Gesine ihre Tochter und deren Leben langweilig. Ohne jede Herausforderung. Ohne ein Ziel jenseits der eigenen Bedürfnisse.
Sie öffnet den Küchenschrank und nimmt die Dose Darjeeling First Flush heraus, die sie im letzten Jahr von einer Himalaya-Tour mit dem deutschen Alpenverein mitgebracht hat. Der schlichte Glaube der buddhistischen Mönche in den Klöstern dort hat sie tief beeindruckt. Vielleicht zum ersten Mal verspürte sie den Wunsch, alles hinter sich zu lassen: ihre Gemeinde, die Aufgaben als Seelsorgerin, ihre irdischen Besitztümer. Ist es das Alter? Hat das Abschiednehmen schon begonnen? Das Wasser kocht. Der Tee wird ihr helfen, die düsteren Gedanken und das düstere Wetter zu vertreiben.
In vier Jahren soll sie ebenfalls in Rente gehen. Die Einsamkeit wird ihr sicher mehr zusetzen als heute, so mitten im Leben. Doch allein ist sie nie. Gott wird immer ihr Begleiter sein. Ein Privileg, das sie nur zu gern mit ihren Mitmenschen teilen würde. Aber nicht jeder ist bereit, Gott in sein Herz zu lassen. Arno war es nicht.
Mit dem dampfenden Becher in der Hand geht sie durch die Diele hinüber ins Büro. Im Vorübergehen streift sie mit der Linken das glatte Holz der Stele. »Ein Totempfahl«, hat Arno gesagt, als er ihr stolz die schlanke Säule mit den geschnitzten Gesichtern zeigte. Arno war fasziniert von den Roma im Heim, er bewunderte ihre Haltung und ihre Schönheit weitgehend kritiklos. Als sie gehen mussten, verschwand er nach Südfrankreich. Verzweifelt an den Realitäten der Nachwendezeit. Ein Künstler, der nur seinen eigenen Träumen und Visionen folgte. Dafür hat er ohne Zögern ihr gemeinsames Leben geopfert. Natürlich wäre sie ihm nie gefolgt und hätte dafür ihr Pastorat aufgegeben. Das Problem ist nur: Er hat sie nicht einmal gefragt. Eines Morgens war er einfach nicht mehr da. Bald zwanzig Jahre ist das her. Herrje, wie die Zeit vergeht.
12. Juni 2012, Kiel-Gaarden
Schleswig-Holstein, Deutschland
»Verdammt, Kamal!«
Mattie haut aufs Lenkrad und dreht den Zündschlüssel um. Stotternd wie ein alter Esel erwacht der Bus zum Leben. Er fährt noch.
Kamal rührt sich nicht. Wie eine Statue steht er hinter dem Wagen, nur ganz außen im Spiegel zu sehen, Arme vor dem Körper verschränkt, die Kapuze verbirgt seine Augen.
Sie hat die ganze Nacht versucht, ihm klarzumachen, dass es kein Abschied für immer sein muss. Dass sie sonst auch monatelang unterwegs war. Wie so oft saßen sie nach dem Training im Vorraum des Dojo bei einer Tasse Mokka. Aber diesmal brachte das Eis zwischen ihnen die Luft zum Klirren.
»Wenn du gehst, gibt es keinen Weg zurück.« Kamals kurze Antwort auf ihre lange Rede.
Der Eingang des Shaolin-Klosters wird in wenigen Momenten mit der schroffen Bergwand verschmelzen. Die Heldin hat gewählt und ist von nun an auf sich allein gestellt.
Mattie weiß, dass Kamal eine komplizierte Ehe hinter sich hat, dass Regina immer wieder vor seiner Tür stand. Vielleicht ist es genau das. Kamal hat von allem genug gehabt: erst der politische Kampf in Teheran, Flucht aus dem Iran, eine große, verkorkste Liebe, zwei Kinder, sein Sohn Azim, Jasmins Bruder, gestorben als Junkie in einem Autowrack. Zwei pubertierende Adoptivtöchter, die er gemeinsam mit seiner Exfrau erzieht. Kung-Fu-Schule, Personenschutzagentur, sein Boot, sein Motorrad, Stammtisch mit den Persern , eine obskure Versammlung alternder Exil-Iraner.
Und Mattie? Seit Hinnarck tot ist, kommt es ihr vor, als sei sie aus einer Warteschleife aufgewacht. Ihr Leben fühlt sich an wie ein Ballon mit heißer Luft, in der noch ganz leicht die alten Träume flimmern. Aber
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