Grenzfall (German Edition)
nur, wenn man genau hinsieht, und höchstens in Schwarz-Weiß.
Der Abschiedsbesuch bei Emma fällt kürzer aus als geplant. »Ihre Mutter lässt Ihnen ausrichten, sie möchte Sie nicht sehen.« Mattie steht wie ein begossener Pudel vor der Rezeption, wo man sich anmelden muss wie in einem Hotel. Dahinter ein junges Gesicht, Hochsteckfrisur, weißes T-Shirt, garantiert frei von Gerüchen und sonstigen Schadstoffen.
»Heißen Sie Lisa?«
»Ja, warum?«
»Nur so. Einen schönen Sommer für Sie.«
Überraschter Blick. »Danke!«
Als Mattie draußen in den Bus steigt, sieht sie Emma mit ihrer Zigarette am Fenster sitzen. Starrer Blick. Emma hat ihr den Kampf angesagt. Eine Löwin auf Psychopharmaka.
Erst als sie auf die Autobahn fährt und den maximalen Beschleunigungsgrad erreicht, der gerade der erlaubten Mindestgeschwindigkeit entspricht, merkt sie, wie verkrampft sie das Lenkrad umklammert. Immer locker, Mattie. Noch fünf Stunden liegen zwischen dem Abschied aus ihrem alten Leben und Nicks Wiedereintreten in ihre Umlaufbahn. Ein beunruhigendes Ereignis, zumal er neuerdings Frau und Kind hat. Nick wechselt seine Lebensentwürfe wie ein Chamäleon.
Mattie hat nicht mal genug Phantasie für einen einzigen.
Sein Anruf hat den Ausschlag gegeben. Berliner Anwaltskanzlei braucht Mädchen für alles auf Festanstellungsbasis. Nun muss sie Jasmin auch noch dankbar sein. Schluck’s runter. Es gibt nicht gerade eine verschwenderische Auswahl an Möglichkeiten, sich selbst plus Emma über Wasser zu halten.
»Was haben Sie denn für Referenzen, Frau Junghans?«
Referenzen? »Ich war selbständig tätig.« Wanderkino, Vorführraum, Filmverleih. Kung-Fu-Unterricht. Fahrerin für Kamals Security-Leute.
»Und in welcher Branche, wenn ich fragen darf?«
»In der Unterhaltungsbranche.« Sie hat ein paar Filmreihen gemacht. Wie hieß noch der Typ in Berlin? Achim Sander, richtig. Der ist mitsamt seinen Spreespeichern und dem Badeschiff in die Insolvenz gerutscht, das hat sie mal irgendwo gelesen. Lebt jetzt wahrscheinlich auf den Malediven. Auch keine Referenz.
Mattie hat es satt, die Nebenrolle zu spielen. Nicks Muse, Kamals Ikone, Emmas Arbeitsdrohne. Ihre Welt besteht aus einem dreißig Jahre alten roten Reisebus, einem Projektor mit Leinwand (eingelagert) und ein paar Kisten, die sie noch nie ausgepackt hat. Und was ist sie für Cal? Beste Freundin, wenn überhaupt.
Mit einer Hand klappt sie den Laptop auf, der neben ihr auf dem Sitz liegt und mit den Boxen verbunden ist. Switcht durch die Songs auf ihrer Festplatte. Alles langweilig. Falsche Stimmung. Tausendmal gehört. USB-Stick, Netzeinwahl.
»Hello?«
»Cal, Mattie hier. Ich brauche dein Bild. Sofort.«
»Gimme ten seconds.« Na gut, zehn Sekunden, keine mehr. Ab jetzt stellt Mattie die Bedingungen.
Zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei.
»Mattie!«
Ihr Herz macht einen Sprung. Dann eben beste Freundin. Scheißegal wie man es nennt. Fühlt sich gut an. »Hi handsome, wo steckst du?«
Er guckt sich um, hinter ihm kreischen unscharf Leute vor einer Ladenfassade. »Weiß nicht, irgendein book launch. Bin hier mit Vivek Sen.«
Der unwiderstehliche Strubbelkopf des Bollywoodstars wischt ins Bild. »Hi Mattie, you look gorgeous. Are you driving while on skype, bad girl?«
Mattie grinst. Millionen Mädchen aus aller Welt würden für diesen Chat ihre Ersparnisse hinblättern. »Bist du der neue Prinz an Cals Seite?«
»Wo denkst du hin? Ich bin ein verheirateter Mann.« Verheiratet nach nepalesischem Recht mit Jai, einem legendären indischen Softwaremillionär. Millionen Ersparnisse umsonst verpulvert.
»Vivek, kümmer dich mal um deine Fans, die stürmen gleich den Laden.« Jetzt ist Cal wieder da. »Wohin bist du unterwegs, asphalt cowgirl?«
»Zu Nick.« Früher oder später wird er es sowieso erfahren.
Sein Gesicht verzieht sich. »Autsch. Tut immer noch weh.«
»Ich weiß.« Sie weiß. Besser denn je. »Cal, ich brauch sofort ein Lied von dir. Ein trauriges Lied. Ich möchte es vier Stunden lang hören und weinen.«
»Darling, ich habe grad kein Lied – das ist hier der Computer von dem – warte mal …« Es rumpelt und Cal verschwindet aus der Webcam.
Mattie sieht einen halben Ventilator und eine Rikscha, die vor dem Fenster vorbeifährt. Bombay. Ob der Monsun schon angefangen hat?
»Kannst du aufnehmen?«
Wie ging das noch, mitschneiden. »Yes, sir.«
Er singt. Cal singt ihr ein Lied vor.
Die Tränen lassen nicht lange
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