Grenzfall (German Edition)
Überall stehen Kästen aus Korb, in denen Leute in Badehosen liegen. Weiter links, wo das Zentrum von Kollwitz liegt, kann sie eine Brücke erkennen, die weit ins Meer hinausragt.
Sie will nicht zwischen die Badenden gehen mit ihrem langen Rock und den Stiefeln. Doch sie kann ihren Blick auch nicht vom Meer losreißen. Also folgt sie dem Weg auf dem Deich, bis sie zu einer weißen Bank kommt. Sitzen. Adriana stellt ihre Stofftasche auf den Boden und holt das zusammengeschnürte Fahrtenbuch heraus. Sie hat noch nicht darin gelesen, sie schiebt es hinaus. Ihr kostbarster Besitz. Sie will es Stück für Stück genießen. Langsam und mit Vorsicht löst sie die Schnur und ordnet die Seiten. Bei jedem Eintrag hat Vater ein Datum in die erste Zeile einer neuen Seite geschrieben. Eine Seite wird sie lesen. Mehr nicht.
»30/04/1992. Geliebte Tochter. Heute hast du dein erstes Brot gebacken. Es war ein bisschen zu salzig, aber ich habe mir nichts anmerken lassen. Du wirst einmal eine gute Frau und eine wunderbare Köchin werden, das sagt mir mein Gefühl. Es ist ein warmer Sommerabend, und ich sitze draußen und trinke mein Bier im Hof. Ein paar von uns haben ihre Instrumente ausgepackt und spielen alte Lieder aus der Heimat. Mein Herz könnte leicht sein, und dennoch ist es schwer vor Sorge. Wann hat deine Mutter das letzte Mal hier neben mir gesessen? Ich kann mich nicht erinnern. Ich glaube, sie wird langsam krank vor Traurigkeit. Sie ist nicht die Einzige hier, es hat einige erwischt, vor allem Frauen, aber auch ein paar Männer. Manche trinken zu viel Alkohol.
Letzte Woche hat es wieder Ärger gegeben im Kaufmarkt . Deutsche Jugendliche haben ein paar Frauen von uns angegriffen. Sie sollten ihre Röcke hochheben, um zu beweisen, dass sie nichts gestohlen haben. Liviu und Dan sind zufällig vorbeigekommen. Es gab eine Schlägerei. Die Polizei griff ein. Ich kam dazu und habe versucht zu vermitteln, aber was kann ich tun, wenn ich ihre Sprache nicht spreche? Wie ein Kind musste ich zu Arno laufen und um Hilfe bitten. Er konnte wenigstens verhindern, dass die beiden im Gefängnis landeten.«
Plong. Adriana schreckt hoch. Ein älteres Paar mit Hund ist an ihr vorbeigegangen. Haben sie – Adriana nimmt ihre Tasche hoch, wühlt darin herum. Tatsächlich! Es liegt ein Fünfzigcentstück darin. Die Frau dreht sich um und lächelt sie an. Adriana starrt ihr nach. Sie stammt doch nicht aus einer Familie von Bettlern! Noch nie hat sie um Geld gebettelt, selbst wenn sie nichts mehr zu essen hatten. Vater hätte es nicht gutgeheißen. Vater.
»Übrigens hatten die Frauen nichts gestohlen. Die Polizisten haben über Funk eine weibliche Polizistin gerufen, die musste sie durchsuchen, eine nach der anderen, im Polizeiwagen. Natürlich gibt es Ţigani, die stehlen. Genauso gibt es Polen, Rumänen, Deutsche, die stehlen. Sind sie deswegen alle Verbrecher?
Die Alten haben aufgehört zu spielen. Mein Bier ist alle. Es ist still, ganz still. Ich werde jetzt auch zu Bett gehen. Aber ich habe ein ungutes Gefühl. Es liegt etwas in der Luft.«
Nun hat sie doch mehr als eine Seite gelesen. Fast glaubte sie, seine Stimme zu hören. Es tut gut. Sie fühlt sich weniger allein.
»Ordnungsamt. Guten Tag. Dürfte ich Sie bitten, hier aufzustehen?« Ein hochgewachsener Mann in Uniform. Sie hat wieder nicht aufgepasst.
»Polizei?«, fragt sie vorsichtig. Das Gesicht kommt ihr bekannt vor. Die Augen.
»Nein, aber ich kann gern die Polizei rufen, wenn Sie hier nicht verschwinden.«
Nils! Sie hebt die Hand, um nur seine Augen zu sehen. Er ist es. Die alte Wut kriecht in ihr hoch. »Warum darf ich hier nicht sitzen? Ist verboten?«
Nils erkennt sie nicht. Er sieht ihr sowieso nicht in die Augen, sondern fixiert einen Punkt über ihrem Kopf. »Sie haben hier gebettelt. Ich habe das beobachtet. Von dort aus.« Er zeigt in Richtung Kollwitz. »Sie können es gerne woanders versuchen. In Kollwitz ist es nicht erlaubt, die Badegäste anzubetteln oder Scheiben zu putzen. Ich befolge nur meine Anordnungen. Bitte gehen Sie jetzt.«
Adriana weiß, dass es keinen Zweck hat, mit ihm zu streiten. Sie legt die Papiere vorsichtig zurück in ihre Tasche und steht langsam auf. Wie gerne würde sie ihm noch mal ihr Messer zeigen. Doch sie darf nicht auffallen. Noch nicht.
Er wippt in seinen Schuhen auf und ab, sieht ihr nach, wie sie den Weg entlang und die Holztreppe hinuntergeht. Sie fühlt seinen Blick im Rücken.
Lange.
Sehr lange.
13. Juni 2012,
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