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Grenzfall (German Edition)

Grenzfall (German Edition)

Titel: Grenzfall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Merle Kröger
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Ist das nicht Uwe Jahn da in der Ecke? Dem bekommt das Rentnerdasein nicht, der Mann ist einsam. Immer öfter sieht sie ihn in letzter Zeit da herumsitzen. Er scheint keine engen Freunde zu haben, seine Frau ist vor zwei Jahren an Magenkrebs gestorben, die Kinder oder Enkelkinder hat sie nie getroffen.
    Jetzt ist sie doch stehen geblieben. Ein Pott Kaffee kann nicht schaden angesichts der Bürokratie, die sie im Pfarrhaus erwartet. Das heiße Porzellan wärmt ihre klammen Finger. »Guten Tag, Herr Jahn, darf ich mich setzen?«
    Er sieht sie erstaunt an, nickt. »Gibt’s wieder ein Problem mit dem Boiler?« Als er noch Hausmeister in den Ostseeterrassen war, hat er sich nie geziert, auch in der Kirche oder im Pfarrhaus mal Hand anzulegen. Jetzt ruft sie wohl oder übel einen Handwerker an, schließlich kann sie den Mann ja nicht schwarz beschäftigen.
    »Alles in Ordnung. Und selbst?« Sie weiß aus Erfahrung, dass es keinen Sinn hat, überflüssige Worte zu verschwenden. Ihre Gemeinde liegt schließlich in Vorpommern.
    »Bestens.« Sein unsteter Blick verrät das Gegenteil.
    »Sagen Sie, Herr Jahn, Ihre Frau erwähnte mal, dass Sie einen Sohn haben, der bei der Bundeswehr dient. Man hört ja so einiges über den Einsatz in Afghanistan.«
    Er schweigt. Nimmt einen Schluck Bier. »Mein Sohn ist bei den Pionieren. In Süddeutschland.«
    Gesine ist erfreut über den Ansatzpunkt. »Ach, wo denn genau? Wissen Sie, meine Tochter lebt in Freiburg, und da bin ich in den letzten Jahren öfter –«
    »Hab ich vergessen.« Er nimmt noch einen Schluck Bier.
    Gesine beobachtet ihn. Er sucht nach einem Ausweg, will nicht unhöflich sein. Immerhin hat sie seine Frau in den letzten Monaten ihres Lebens fast täglich besucht. Gesine weiß einiges über Agnes Jahn, die ihr Leben als Verschwendung angesehen hat. Wenigstens hat sie in Frieden sterben können, im Vertrauen zu Gott.
    »Denen ist es doch egal, wer ihre Eltern sind. Seitdem, also seit damals –«
    Die anderen sehen herüber. Seine Stimme ist lauter geworden als beabsichtigt. Er will alles, nur nicht auffallen, der Jahn. »Entschuldigen Sie, ich habe noch Wild abzukochen.« Er steht auf. Draußen gießt es. Nicht einmal das kann ihn abhalten von seiner überstürzten Flucht.
    Mit drei Schritten ist Gesine wieder an seiner Seite. »Dann haben wir ja denselben Weg!«, ruft sie gegen den Sturm an.
    Schweigend stapfen sie durch die plötzliche Dämmerung. Ein Blitz erhellt die Szenerie. Links die schimmernden Ostseeterrassen, rechts wie ein beabsichtigter Störfaktor in der Siedlung die Backsteinkirche und das Pfarrhaus, mehr ist nicht übrig vom Zentrum des einstigen Fischerdorfs.
    »Wollen Sie Ihren Sohn nicht mal anrufen? Ich könnte mir vorstellen, dass …«
    Heftiges Kopfschütteln. Der Mann läuft so schnell, dass sie kaum Schritt halten kann. Die Kinder haben den Kontakt abgebrochen, als der sogenannte Wildschwein-Prozess durch die Presse ging. Die sterbende Agnes Jahn konnte Gesine nicht erklären, warum der Sohn und die Tochter so heftig reagierten. In dieser Familie war sicherlich schon vorher etwas aus dem Lot geraten.
    Gesine seufzt. Wen hat die Wende damals nicht erschüttert? Sie kennt Uwe Jahn seit der Umbauphase in den Ostseeterrassen. Da war der Prozess schon in vollem Gange. Die ersten Meldungen hat sie aus einem anderen Grund verfolgt. Eines der Opfer, Marius Voinescu, lebte hier im Heim. Seine Mutter starb unter tragischen Umständen, dann passierten die Grabschändungen und zu guter Letzt dieser furchtbare Jagdunfall.
    »Ich muss dann mal.« Bei seinem Tempo haben sie schon die Garagen erreicht.
    Gesine reicht ihm die Hand. »Herr Jahn, ich bin für Sie da. Wenn Sie Trost suchen oder Hilfe …«
    »Wat mutt, dat mutt.« Er drückt kurz ihre Hand. »Auf Wiedersehen, Frau Pastorin.«
    Was für ein deprimierender Satz, bei aller Liebe zur plattdeutschen Sprache! Sie blickt ihm nach. Es ist doch schicksalhaft: Erst hat das Opfer hier gelebt und nun der Täter.
    Uwe Jahn schließt seine Garage auf. Gesine sieht das Licht der Neonröhre aufflackern. Der Mann tut ihr leid, er hat eine Menge durchgemacht. Doch dass er weiter zur Jagd geht, findet sie widerwärtig, geschmacklos. Keine drei Tage nach dem Freispruch stand er im Ordnungsamt auf der Matte und hat seinen Jagdschein beantragt, das weiß sie aus erster Hand. Bis heute übt er sein blutiges Handwerk aus, gleich hier, in einer modernen Wohnanlage wie den Ostseeterrassen. Sie nimmt sich vor, dieser Tage mit

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