Grenzfall (German Edition)
das Gefühl hat, sein Geschenk wird zurückgewiesen. Den Ersatzschlüssel hast du ja.«
Großartig. Mattie geht auf Abenteuerfahrt und Nick kriegt noch mehr familiäre Verpflichtungen!
»Nick? Bist du noch da?«
»Okay. Kann ich ihm einen Namen geben?«
Ihre Stimme sendet Signale durch den Äther, sie vibriert förmlich vor Energie. »Frag ihn doch selbst. Und kannst du vielleicht im Anwaltsbüro sagen, dass ich krank bin oder so? Ich glaub nicht, dass ich es schaffe, bis Montag früh wieder da zu sein.« Wieder dieses Kichern. »Okay, wir sind jetzt an der Grenze. Mach’s gut, Nick!« Die Verbindung bricht ab.
Jasmin steht in der Tür zum Schlafzimmer. »Was ist denn jetzt schon wieder los?«
»Mattie ist nach Rumänien unterwegs. Sie macht Ernst.« Er kann nicht verhindern, dass Bewunderung in seiner Stimme mitschwingt. »Glaub mir, es wird ihr guttun. Endlich ist der Winterschlaf vorbei.«
Jasmin steht da und guckt ihn an. »Und du würdest am liebsten mitmachen, oder?«
Er muss darauf nichts sagen. Sie kennt die Antwort. »Ich muss eine gute Krankheit erfinden, sonst verliert sie den Job gleich wieder.«
»Weißt du, Nikolaus, was mich wirklich nervt? Ich hab Mattie diese Arbeit vermittelt. Ich muss jetzt tolerieren, dass du meinen Bekannten, ihren Arbeitgebern, Lügen erzählst. Könnt ihr beide euch nicht einfach mal benehmen wie Erwachsene?«
Den Spruch hat er zuletzt von seiner Mutter gehört. »Aber ich bin doch hier bei euch. Was willst du denn noch?«
»Du spielst das nur, solange es dir passt. Und ich würde mich gern auf dich verlassen können.« Tür zu.
Nick steht leise auf, nimmt die Jacke vom Haken und steckt den Fahrradschlüssel ein. Jasmins Flaschen-Wegbring-Korb muss auch mit, für den Köter, und Azims Kuscheldecke.
Den Hund holen.
Betrinken.
Ausblenden.
19. Juni 2012, Turnu Severin
Walachei, Rumänien
Mattie sitzt in der menschenleeren Lobby vom Green Hotel . Warum grün, hat sich ihr noch nicht erschlossen. Weder gibt es hier viele Grünpflanzen, noch scheint man besonderen Wert auf ökologische Kost zu legen. Die Atmosphäre ist eher realsozialistisch, obwohl das Hotel ein Neubau ist.
Sie hat einen langen Tag im Zug hinter sich, der sie quer durch Rumänien geschaukelt hat. Über die Karpaten, vorbei an gigantomanischen Industrieruinen und bunt gestrichenen Häusern mit Weinlaubengängen. Am Bahnhof von Turnu Severin hat Liviu eine Überraschung organisiert. Ein Mann um die dreißig mit dunklen Locken und Sex-Pistols-T-Shirt. Stellte sich als Georgel vor, Lehrer von Livius ältester Tochter, Geschichte und Deutsch. Außerdem Hobbyarchäologe und eigentlich seit einer Woche zu Ausgrabungen im Donaudelta unterwegs. Soweit sie verstanden hat, eine Art Sommercamp anarchistischer Historiker. Anhaltende Regenfälle und Überschwemmungen haben das verhindert, zu Georgels Unglück und Matties Glück.
Der Mann hinter der Rezeption hantiert mit zwei Handys, die beide gleichzeitig klingeln. Mattie döst in dem Kunstledersessel vor sich hin. Gäste scheint es in diesem Hotel sonst keine zu geben. Es ist heiß, schon um zehn Uhr morgens.
»Willkommen in Rumänien.« Georgel steht vor ihr, pünktlich und dem Anlass entsprechend gekleidet. Heißt, er hat die Sex Pistols gegen adidas eingetauscht. Seine stämmige Figur verdunkelt das helle Licht, das von draußen hereinscheint. Mattie blinzelt ihn an. Der Typ hinter der Rezeption wirft ihnen einen misstrauischen Blick zu.
»Hat der Angst, dass ich abhaue, ohne zu bezahlen?«
»Nee, der hat Angst, dass sein Hotel als Ţigani-Treffpunkt bekannt wird.«
»Was?« Plötzlich ist Mattie hellwach. »Aber hier ist doch niemand außer uns.«
Georgel guckt sie spöttisch an. Klar, er ist dunkler als der Durchschnittsrumäne, schwarze Haare, Goatie, Ohrring. »Mein Papa war Rom und meine Mutter ist Rumänin.« Er überlegt kurz. »Na ja, und du siehst auch nicht so ganz –« Er spricht den Satz nicht zu Ende. »Vergiss es. Komm, das Taxi wartet draußen.«
Mattie steht auf. Sie weiß nicht, ob sie lachen soll oder schlechte Laune kriegen. Aus Deutschland kennt sie eher die subtile Art der Ausgrenzung. Hier ist es offener Rassismus. Sie wirft dem Rezeptionisten einen scharfen Blick zu und folgt Georgel nach draußen. Demonstrativ steigt sie neben ihm hinten ins Taxi ein.
»Warum bist du Lehrer?«, fragt sie, als der Wagen losfährt. Gestern Abend hat er ihr erzählt, dass der Monatslohn eines Gymnasiallehrers unter dreihundert Euro liegt.
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