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Grenzfall (German Edition)

Grenzfall (German Edition)

Titel: Grenzfall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Merle Kröger
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eine Vollmacht zu bitten. Georgel übersetzt. Wieder antwortet Ştefan.
    »Er sagt, Liviu hat in ihrer Familie nichts zu sagen. Wir sollen gehen. Sie kümmern sich selbst um ihre Angelegenheiten.«
    Mattie sucht Blickkontakt zu Florin. Ihr Bericht hat ihn sichtlich getroffen. Er holt sein Handy aus der Tasche und beginnt zu telefonieren, ohne sie weiter zu beachten. Sie sieht Ştefan an, will noch etwas sagen. Aber Georgel ist schon auf dem Weg zum Tor. Enttäuscht dreht sie sich um und geht ihm nach, unter den Augen der Brüder, die sich keinen Zentimeter vom Fleck gerührt haben.
    Kurz vor dem Tor erhascht sie noch einen Blick auf Kühlschrank und Töpfe in dem, was sie für die Garage hielt. Kinderköpfe verschwinden blitzartig aus dem Türrahmen. Ein Mädchen jedoch, vielleicht zwölf, dreizehn, bleibt stehen und wirft ihr einen Blick zu, der Mattie bis auf die Straße verfolgt. Provozierend? Aufreizend? Mitleidig? Schwer zu sagen.
    Ihre Anwesenheit hat schon die Runde gemacht. Der Weg zurück zur Hauptstraße ist eine Erfahrung, die Mattie so schnell nicht vergessen wird. Die Augen straight auf den Bärenrücken von Georgel gerichtet, stapft sie durch den Staub. Es fällt kein lautes Wort, doch sie spürt, dass sie unter durchgehender Beobachtung stehen.
    Eine geflüsterte Bemerkung.
    Ein Lachen hinter ihrem Rücken.
    Als endlich ein klappriges altes Taxi hält, kommt es ihr vor wie der Himmel auf Erden. Ein Innen, in dem sie verschwinden und sich dem Außen entziehen kann.

20. Juni 2012, Hansestadt Kollwitz
Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland
    Adriana sitzt in der Zelle am Tisch. Das Fenster ist vergittert, wie damals im Heim. Dahinter ein großer Hof. Grünes Gras, kurz geschnitten. Rundherum ein Gang aus hellgrauen Betonplatten. Ein paar Bäume, noch jung, sie haben kaum Blätter. Adriana ist unruhig.
    Die Zeit steht still.
    Sie wartet darauf, dass ihre Kleider trocknen. Die Wärterin hat ihr ein T-Shirt und einen Rock gebracht. Das T-Shirt ist zu groß und der Rock zu kurz. Sie fühlt sich nackt, setzt sich wieder aufs Bett, kriecht unter die Decke. Das Alleinsein macht sie müde, unendlich müde. Dauernd schläft sie ein, hat wilde Träume, wacht wieder auf. Sie kann sich nicht erinnern, jemals so lange in einem Raum gewesen zu sein.
    Nachts liegt sie wach. Überall im Haus geht zur selben Zeit das Licht aus. Dann ist es dunkel. Kein Laut ist zu hören. Als läge sie tot in einem Sarg. Sie lauscht auf ihren Herzschlag. Und wartet auf den Morgen.
    Die Frau, die ihr jeden Tag das Essen bringt, kommt herein. Sie stellt das Tablett mit dem Mittagessen auf den Tisch. Sie haben noch kein Wort miteinander gesprochen.
    »Meine Tasche!« Ihre Stimme klingt heiser. Wie lange ist es her, dass Liviu sie besucht hat? Drei Tage? Drei Wochen? »Da sind Papiere drin. Wichtige Papiere.«
    »Die Tasche ist in Verwahrung.« Die Frau ist schon wieder auf dem Weg nach draußen.
    »Kann ich in den Papieren lesen? Bitte?«
    »Wenn Sie lesen wollen, gehen Sie in die Bücherei. Da gibt’s genug zu lesen.«
    Der Schlüssel dreht sich im Schloss. Die Frau ist weg. Adriana geht zum Tisch und isst.
    Beim nächsten Mal ist sie schneller.
    Kaffeepause. »Kann ich einen Antrag stellen, um die Papiere zu lesen?«
    Die Frau guckt sie an. »Können Sie.« Etwas Seltsames geht von ihr aus. Adriana versucht in ihrem Gesicht zu lesen. Ist es Hass? Nein, nicht nur. Hass hat sie schon oft gesehen. In Rumänien. In Spanien. In Deutschland. Es ist noch etwas anderes. Angst. Die Frau hat Angst vor ihr. Die Mörderin. Die Zigeuner-Mörderin. Adriana hat dieses schlechte deutsche Wort für Ţigani nicht vergessen. Die Erkenntnis, dass die Frau Angst vor ihr hat, gibt ihr den Mut, weiterzumachen.
    »Wie stelle ich einen Antrag?«
    Die Frau verschwindet und kommt kurz darauf mit einem weißen Blatt und einem Kugelschreiber zurück.
    Die nächsten Stunden verbringt Adriana damit, aufzuschreiben, dass sie in dem Fahrtenbuch ihres Vaters lesen möchte. Zwischendurch legt sie immer wieder den Kopf auf die Arme. Als sie das Abendessen abräumt, nimmt die Frau ihren Antrag mit.
    Am nächsten Morgen liegen die Seiten aus Vaters Fahrtenbuch auf dem Tisch neben dem Tablett. Das erste Mal seit Tagen fühlt Adriana etwas anderes als Einsamkeit und Angst. Vater ist bei ihr.
    »28/06/1992.« Der Abend, bevor er starb. Adriana sitzt aufrecht am Tisch. Sie ist nicht mehr müde. »Meine Tochter, als ich heute Nachmittag am Telefon deine Stimme hörte, musste ich fast

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